Sufizentrum Braunschweig
  Sufi-Derwischtanz
 



Sufi-Drehtanz



Sheikh Ahmad Dede und seine drehenden Derwische

Der Drehtanz ist eine der ältesten Techniken der Sufis und eine der wirkungsvollsten. Es ist ein Wirbelsturm und doch in der Mitte ganz ruhig. Dein inneres Sein wird gleichsam der Drehpunkt und dein Körper zu einem kreisenden Rad. Du wirst die Mitte des Universums, ganz bei Dir und doch mit allem verbunden. Es ist der stille Dialog zwischen dem inneren und dem äußeren Universum. Musik und Tanz verbinden sich im Rhythmus, der die Brücke schafft zum Pulsschlag des eigenen Herzens, und zur Präsenz der anderen.
Der Drehtanz soll aus der Nüchternheit des Alltags über eine Ekstase (im Sinne der Glückseligkeit der Einigung) in eine Nüchternheit höherer Ordnung führen. So verstanden kann der Drehtanz als eine "Leiter zum Himmel" gesehen werden, oder auch als Teil von tawhid, der Wissenschaft der Einheit allen Seins.
Der Drehtanz wurde schon im 9. Jahrhundert von den Sufis in Bagdad praktiziert und dann von Sultan Walad, Mevlana Jalalluddin Rumis Sohn (Rumi starb am 17. Dez. 1273), anläßlich der Organisation des Mevlevi-Ordens institutionalisiert und perfektioniert. Rumi praktizierte ihn noch spontan und z.T. ungestüm.
Das Sama-,Ritual in seiner vollendeten Form stellt die spirituelle Reise des Menschen zum Göttlichen und seine Rückkehr als Dienender dar. Jede Geste hat symbolische Bedeutung und wird mit Bedacht und Konzentration ausgeführt.Mein Himmel und Meine Erde umfassen Mich nicht, aber das Herz Meines gläubigen Dieners umfasst Mich. (Hadith Qudsi).Drei Jahre müssen die Schüler üben. Sie lernen drei Jahre lang - 1001 Tage - im Grunde die Kunst des "Tretens auf der Stelle". Sie lernen sich im Kreis zu drehen, ohne äußerlich vom Fleck zu kommen.
Das Ziel ist erreicht, wenn die Übenden beim Kreisen den Drehpunkt genau einhalten können. Es beginnt, indem man den Kreis in vier Teile aufteilt. Jeder Teil dieses Kreises wird mit dem rechten Fuß berührt, dann wird der Kreis in zwei Teile aufgeteilt und die Drehungen soll mit zweiStößen des rechten Fußes erreicht werden. Zuletzt soll eine ganze Umdrehung mit einem Schwung erreicht werden. Die Grundlage unserer Existenz - vom Atom bis hin zum Kosmos - basiert auf einer Drehbewegung. So suchen die Tanzenden im Drehen die Harmonie mit Natur und Schöpfer. Der Sama -, oder die Muqa-bala (Drehritual): ... und wenn die Reise zu Gott beendet ist, beginnt die unendliche Reise in Gott.“Sama -,” heißt "Hören" im Sinne des Hörens auf die zur Einheit führenden Klänge. Das Hören konzentriert sich auf das Wahrnehmen verschiedenster Formen des "Klanges der Einheit", oder anders ausgedrückt, der "Stimme der Stille". Mevlana zum Beispiel hörte die süße Melodie der göttlichen Frage: “Bin ich nicht euer Herr?” (Sure 7,172).
Der Buchstabe “H” am Ende von Allah weist auf den Hauch hin, in dem letztlich - mit den "Augen des Herzens" - ein Abglanz Seiner Majestät erblickt wird. "HUUUU" rufen die Mevlevis am Ende ihrer Gebete. Muqa-bala wiederum bedeutet Begegnung, Meditation. Die Begegnung mit dem eigenen göttlichen Licht, aus dem heraus das Licht in allen Geschöpfen erkannt und gesehen wird.Entgegen der üblichen Meinung ist es nicht das Ziel der Drehenden, in eine Ekstase zu verfallen.
Vielmehr dreht man in Harmonie mit der Natur, mit den kleinsten Zellen und den Sternen am Himmelsgewölbe, und wird damit Zeuge der Majestät und Existenz des Schöpfers. Es ist ein Denken an Ihn, ein Danken und ein Beten zu Ihm. In diesem Tun bestätigt die bzw. der Drehende das Wort des Korans: "Was im Himmel und auf Erden ist, preist den Einen Gott" (64:1).Eine wichtige Eigenart dieses achthundert Jahre alten Rituals ist das Zusammenführen der drei fundamentalen Komponenten der menschlichen Natur, nämlich:
des Verstandes (durch Wissen und Gedanken), des Herzens (durch den Gefühlsausdruck, Poesie und Musik) und des Körpers (durch das Anspornen des Lebens und dem Drehen). Diese drei Elemente werden zusammengeschweißt - sowohl theoretisch wie praktisch - wie es wohl in keinem anderen Ritual oder Gedankensystem praktiziert wird. Die Zeremonie des Sama’ stellt den spirituellen Weg des Menschen dar: das geistige Wachsen mittels Intelligenz und Liebe bis zur Vollkommenheit al-Kamal. Im Drehen der Wahrheit entgegen wächst sie durch Liebe, transzendiert das Ego, trifft auf die Wahrheit und erlangt Vollkommenheit. Dann kehrt sie zurück von ihrer spirituellen Wanderung, befähigt zu lieben und dieser Schöpfung mit allen Geschöpfen zu dienen, ohne Unterscheidung von Glaube, Klasse oder Rasse.

Symbolik der Kleidung

Im Ritual des Sama’ symbolisiert der Schwarze Überhang das Grab, während man diesen ablegt, wendet man sich von dieser Welt. Der Prozeß der Wiedergeburt in der Wahrheit beginnt. Der Hut aus Kamel- oder Ziegenhaar symbolisiert den Grabstein des Ego. Der weiße Rock repräsentiert das Leichentuch des Ego und damit den Durchgang zum "Eins-Sein". Das persische Wort Derwisch ("Durchgang") und das arabische Wort Faqir (einer der nichts besitzt und von nichts besessen wird), sind Bezeichnungen, die für Menschen verwendet werden, die auf dem Weg der Liebe zu Gott gehen.

Die Bedeutung der Bewegungen

Zu Beginn der Zeremonie sind die Arme vor der Brust gekreuzt, durch das Kreuzen der Arme erscheint die Drehende in der Bedeutung der Zahl Eins, als Zeugnis der Einheit Gottes. Diese Haltung verweist auch auf Konzentration und Besinnung und auf eine Abkehr von der Außenwelt die geschlossene Form).
Dann öffnen sich die Arme in zentrifugaler Bewegung bis zu einer lockeren Streckung auf etwas über Schulterhöhe steigend. Die rechte Hand weist nach oben in Richtung Himmel, in der Bereitschaft, die göttliche Wohltätigkeit zu empfangen; die linke Hand, auf die sich manchmal auch der Blick der Drehenden richtet, wendet sich der Erde zu. Die bzw. der Wirbelnde übergibt Gottes Geschenk jenen, die dem Sama’ beiwohnen und bildet die Verbindung zwischen der unsichtbaren
und der sichtbaren Welt bzw. zwischen der materiellen und der kosmischen Welt.
Die Drehbewegung des Sufi-Tanzes ist gegen den Uhrzeigersinn, zwar linksläufig, aber mit rechtem Fuß antreibend, mithin zum Herzen und nach innen, aber auch auf die Kollektivität und nach außen
hin gerichtet, zum einen Konzentration und Sammlung, zum anderen auch Streben und Wissensdurst andeutend. Der linksläufige Energiestrom unterstützt den Akt der geistigen Konzentration. In der zum Herzen hin drehenden Bewegung mit den offenen Armen werden rechtsläufige und ausgreifende, offene Bewegungselemente mit introvertierten und mehr konzentrativen,geschlossenen verbunden. Damit wird ein Gleichgewicht zwischen Hingabebereitschaft, Streben
nach kosmischer Aufnahmebereitschaft und Aufrechterhaltung der Realitätsbezogenheit angedeutet. Der Drehende bzw. die mystische Tänzerin steht somit zwischen den Welten gespannt im offenen Raum.
Der linke Fuß bleibt meist mit dem Boden verbunden, während der rechte den Drehschwung gibt,sich rhythmisch hebt und abstößt und das Tempo der Drehung bestimmt. Dies kennzeichnet einen Rechtsantrieb der Bewegung in der Unterzone, der hier wegen des hohen Formnive aus Transformation von Trieben zu geistigen Zielen ausdrückt. Die Linksdrehung hebt die Herzbetonung hervor und deutet auf die weibliche, empfangende Spiritualität und den seelischen
Reichtum, wobei die Beinbewegung auf den Zugang zum kollektiven Unterbewußtsein verweist. Die leichte Rechtsneigung des Kopfes "verbindet mit einer imaginären Linie Gehirn und Herz", und führt die Integration von Gefühl und Verstand herbei.
Im Drehen von rechts nach links ums Herz herum umarmt die Drehende in Liebe die gesamte Menschheit. Der Mensch wurde in Liebe erschaffen, um zu lieben. Die Sufis sagen "Alle Liebe ist eine Brücke zur göttlichen Liebe; doch wer nie einen Geschmack davon hatte, weiß es nicht.” Die rituellen Drehungen sollen von allen störenden Gedanken befreien und in Trance versetzen, bei der der Körper das Schwindelgefühl überwindet. Der Sufi repräsentiert das Tor der Erleuchtung. Labayk, Labayk! "Hier bin ich zu Deinen Diensten!" Die Kraft, die während des Drehens über sie kommt und durch sie hindurchgeht, wird nicht hinterfragt.
Beim Drehtanz ist die Aufmerksamkeit auf das mehr rezeptive spirituelle und sich-öffnende Erleben der Tänzer konzentriert. Der Tanz wird zum Mittel der hingebungsvollen Einswerdung mit dem Höchsten und so zum Gottesdienst in engstem Sinn. Wenn daher die mystischen Tänzer durch den Symbolgehalt ihrer Gesten daran erinnert werden, dass sie sich nicht allein für sich selbst drehen,sondern um der Allgemeinheit zu dienen, so ist auch dies in erster Linie für ihr persönliches und
introvertiertes Erleben wichtig. Die Tänzer stehen als Mittler zwischen den jenseitigen und diesseitigen Dimensionen der Existenz. "Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich, erkannt zu werden" ist die Ursache des Seins nach Auffassung der Sufi, ist die Erklärung für die Entstehung der Vielheit, durch die die Einheit sich selbst betrachtet. Die eher passive Rezeptivität drückt sich auch in dem vergleichsweise geringen Krafteinsatz des Gebetstanzes aus.
Die durch den Tanz induzierte Erfahrung dient nicht dazu, mit nichtmenschlichen Mächten irgendwelchen Handel auszutragen. Der Gebetstanz dient der wunschlosen Vereinigung mit einem Höheren Selbst. Der Drehtanz zeigt eindringliche monotone Herzrhythmusstruktur bei mäßigem Krafteinsatz, was Herzlichkeit und In-sich-Ruhen ausdrückt. Die Tanzbewegungen sind extrem einfach,
gleichmäßig und uniform, mit geringer Wertschätzung des Äußerlichen, zur Förderung der Abstraktionsfähigkeit und zum Erweitern des Willenseinsatzes bei konstruktiver Zweckorientierung.
Meditation ist der ruhigste Zustand des inneren Raum-Zeit-Flusses und ist durch konzentrative, innere oder äußere Bewegungen erreichbar. Dieser Zustand wird auch oft therapeutisch genutzt.Der Drehtanz kann somit zusätzliche Informationen über noch unbekannte Zusammenhänge zwischen Psyche und Physis des Menschen liefern.

Die Illusion der Getrenntheit

Der Schmerz der Liebe wurde zur Arznei für jedes Herz; keine Schwierigkeit kann ohne Liebe gelöst werden. (Attar) Nach den Sufis ist eine der grundlegenden Ursachen des Schmerzes die Illusion der Getrenntheit,die das Herz vor der Erfahrung der Einheit mit unserem eigenen Selbst, mit anderen Menschen, mit der Natur und mit Gott verhüllt. Das Herz ist das Zuhause der Seele; deshalb hängen unser Heilsein und unsere Ausgeglichenheit im Leben vom Zustand des Herzens ab.
Oft wurden Verwundungen als traditionelles Übungsfeld für Heiler betrachtet. Wenn wir erkennen, wie unsere eigenen Verwundungen uns ein besonderes Übungsfeld von Liebe und Mitgefühl bieten, öffnen sich die Augen und Ohren des Herzens. Dann werden wir in die tiefen Geheimnisse und die Weisheit unseres eigenen Herzens geführt. Das hilft uns, zum reinen Grund des Seins zurückzukehren, zu Einfachheit und
Natürlichkeit und zur Ganzheit anstatt der Zersplitterung unseres Lebens.

Musik und Tanz

Speziell die Musik nimmt innerhalb der orientalischen Künste einen zentralen Platz ein. Sufis nennen die Musik ghiza’ ar-ruh, Nahrung der Seele. Musikalische Zusammenkünfte werden von ihnen als Sama’ bezeichnet, welches auf Arabisch "hören" bedeutet. Während dieser Zusammenkünfte versuchen die Anwesenden, der Musik so intensiv zu lauschen, daß sie für einige Momente ihr limitiertes Selbst vergessen, um an der Unendlichkeit der göttlichen Präsenz teilzuhaben. In der Sufiterminologie heißt es, daß es bei musikalischen Zusammenkünften der Sufis "Gott regnet". Jedoch beschränkt sich das "Hören" der Sufis nicht auf die musikalischen Zusammenkünfte, sondern durchdringt alle Bereiche des alltäglichen Lebens. Viele Sufis bezeichnen das gesamte Universum als eine einzige Symphonie, an deren Gestaltung jedes Wesen teilhat.
Tanz kann spezifische Wahrnehmungsveränderungen sowohl in den Ausführenden als auch in Zusehern hervorrufen. Die bekannteste unter ihnen betrifft die Intensivierung von Gefühlen, was sowohl in rituellem Rahmen als auch in der modernen Tanztherapie vielfach funktionalisiert wird.
Daneben kann Tanz aber auch spezifische ekstatische Zustände, Meditations- und Trancezustände erzeugen oder zumindest unterstützen. Schließlich bedeutet Tanz für viele Menschen in vielen
Kulturen einen inneren Weg der Erkenntnis. Durch das Loswerden der Emotionen wird die Toleranz anderen gegenüber gefördert, die Klarheitdes Denkens und die Aufnahmefähigkeit, sowie eineErleichterung von innerem Druck sind feststellbar. Jeder, der gerne tanzt, kennt die Erfahrung, daß Tanzen in eine andere Wahrnehmung von Realität führen, eine Veränderungen im Denken, einen Wandel von Bedeutung und Inhalt hervorrufen kann, sowie Gefühle von Verjüngung und Erneuerung hervorruft. Denn...
Wenn das Herz voller Freude springt und das Entzücken groß ist und die Erregung zum Ausdruck kommt und gewöhnliche Formen abhanden gekommen sind, ist diese Erregung weder Tanz noch körperlicher Genuß, sondern die Auflösung der Seele. (Ibn Taymiya 1263-1328)
DR. FAWZIA AL-RAWI



 
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