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Meine Barmherzigkeit ist größer als Mein Zorn. Gedanken zum islamischen Gottesbild
ANNEMARIE SCHIMMEL
Der islamische Gottesbegriff scheint überaus einfach zu sein. Man wird Muslim durch das Aussprechen der Formel: "Ich bezeuge, daß es keine Gottheit als Gott (Allah) gibt, und daß Muhammad Sein Gesandter ist."
Die zentrale Stellung des Eingottglaubens für den Muslim wird noch genauer definiert in Sura 112, die man als das logische Schlußstück des Korans ansehen kann: "Sprich: Gott ist einer, Gott ist der Ewige, Er hat nicht gezeugt und ist nicht gezeugt, und Ihm gleich ist keiner."
Diese Sura, die wohl zunächst gegen die heidnischen Mekkaner mit ihrer Vielzahl von Gottheiten gerichtet war, wurde später als Ausdruck der Ablehnung der christlichen Trinitäts- und Inkarnationslehre interpretiert. Doch so einfach der islamische Monotheismus zu sein scheint, haben die Gläubigen Gott doch immer anders umschrieben, immer neu mit Worten und Gedanken umkreist, so sehr die Tradition sie auch warnen mochte, nicht über das Wesen Gottes zu grübeln, sondern über Seine Werke.
Der Koran selbst umgibt Gott mit zahlreichen Namen, die Seine Macht und Seine Gnade, Seine Stärke und Seine Milde, Sein Werk als Schöpfer, Erhalter und Herrn des Jüngsten Gerichtes andeuten, und die Kette der sogenannten Schönsten Namen (Sura 7:180), die aus 99 Namen besteht, hat den Muslimen immer dazu gedient, sich dem unnahbaren Gott, der der Erste und der Letzte, der Äußere und der Innere ist (Sura 57:2), zu nähern, denn Er ist ja dem Menschen auch "näher als seine Halsschlagader" (Sura 50:16). Aber im Grunde kann man von Ihm nur sagen: "Er ist" - alle Prädikationen sind vom mangelhaften menschlichen Verstand erfundene vergängliche Gebilde. Und doch, für den Einsichtigen gilt das Wort: "Nichts ist, das nicht Sein Lob verkünde" (Sura 17:44).
I.
Die Scholastiker des Islams versuchten, den All-Gewaltigen in das Netz theologischer Bestimmungen zu bannen, und eine Dogmatik wie die Sanusiyya, die seit dem 15. Jahrhundert einen wichtigen Teil der theologischen Ausbildung darstellt, versucht Gott mit 41 Definitionen zu schildern. Ihm kommen notwendigerweise 20 Eigenschaften zu, deren Gegensätze unmöglich sind:
Was Ihm notwendig zukommt, sind 20 Eigenschaften: 1. Existenz; 2. Uranfänglichkeit; 3. Dauer; 4. Verschiedenheit vom Gewordenen; 5. Bestehen durch sich selbst; 6. Einzigkeit; ferner 7. Macht; 8. Wille; 9. Wissen; 10. Leben; 11. Hören; 12. Sehen; 13. die Rede; dazu sieben akzidentielle Eigenschaften: 14. Sein Mächtigsein; 15. Wollendsein; 16. Wissendsein; 17. Lebendsein; 18. Hörendsein; 19. Sehendsein; 20. Redendsein.
Zwanzig Eigenschaften sind für ihn unmöglich, nämlich Nicht-Existenz usw. Möglich ist in betreff Gottes das Tun oder Lassen jedes Möglichen. So wird der lebendige, aktive Gott des Korans in ein - im einzelnen noch genauer ausgearbeitetes - Netz von Begriffen eingeschlossen.
II.
In der Mystik wird Er wiederum anders gesehen: Die frühen Mystiker nahmen die Feststellung, daß es keinen Gott außer Ihm gäbe, ganz wörtlich und formulierten, im Einklang mit der Orthodoxie, zunächst, daß es "keinen Handelnden außer Ihm" geben könne: Alles, was in der Welt geschieht, entspringt unmittelbar der Aktivität des Allmächtigen, und weder fällt ein Blatt vom Baume noch kann der Mensch ein Wort äußern, außer wenn Gott es will. Auch das menschliche Gebet ist immer eine Antwort auf Gottes Anrede.
Diese Rolle Gottes als dessen, von dem allein Wort und Handlungen ausgehen, kann abgeleitet werden aus dem Konzept des Urvertrages: Sura 7:172 berichtet, wie der Schöpfer in der Urzeit die noch nicht existierende Menschheit aus den Lenden Adams zog und anredete: "a-lastu bi-rabbikum, Bin Ich nicht euer Herr?" und sie antworteten: "Ja, wir bezeugen es." So ist jede menschliche Handlung in der Zeit zwischen dieser Ur-Anrede Gottes (dem "Gestern" der persischen Dichtung) und dem "Morgen" des Auferstehungstages eine Antwort, eine Re-Aktion auf Gottes Handlung, auf Sein Sprechen, Sein Wirken. Man liebte das Gleichnis von den Ameisen, die auf einer schönen Manuskriptseite spazierten und sich fragten, wer solche blumengleichen Muster wohl hervorgebracht haben könnte, und die lernten, daß nicht die Feder noch die Hand, der Arm oder das Gehirn so etwas tun können, wenn nicht Gott den Anstoß dazu gibt und sie leitet. So ist es mit allem, was der Mensch tut: Gott ist der erste Verursacher - wie sehr sich auch der Mensch immer wieder bemüht, sich eine Sphäre eigenen Handelns, einen Raum für Eigen-Mächtigkeit zu schaffen.
Wenn nun Gott der einzige ist, der Macht zum Handeln hat, so konnte in den Kreisen der Mystiker sehr bald die Überzeugung entstehen, daß es nichts wirklich Existierendes gibt außer Gott. Er allein hat, wie Charraz (gest. 896) es ausdrückt, "das Recht 'Ich' zu sagen". Ja, der Mensch kann im Grunde selbst das Glaubensbekenntnis nicht korrekt aussprechen, denn zu sagen: "Es gibt keine Gottheit als Gott" schließt ja noch eine Zweiheit von Sprecher und Erwähntem ein und ist daher kein echter Monotheismus.
Derartige Gedanken durchdringen die Mystik vom ausgehenden 9. Jahrhundert an und werden immer weiter entwickelt. Man kann also sagen, daß in gewissen Kreisen der exklusive Monotheismus des Islam in einen inklusiven Monotheismus verwandelt wird; das la, "es gibt nicht", ist nicht länger die Ablehnung von irgendetwas, das "neben" Gott bestehen könnte, sondern die Bezeugung, daß nichts neben Ihm bestehen kann: "Alles ist Er."
Wie kann nun überhaupt - so fragte man sich in mystischen Kreisen - eine Beziehung zwischen dem einzigen und alleinigen Gott und der von Ihm geschaffenen Welt bestehen, die ja im Koran immer wieder mit Nachdruck ausgesprochen war? Es war der aus Murcia gebürtige mystische Denker Ibn 'Arabi (1165-1240), der den großartigen Schöpfungsmythos schuf, der dann den gesamten mystischen Islam durchdrang, obgleich die außerkoranische göttliche Offenbarung, auf der dieser Mythos beruht, schon auf frühe Zeiten zurückgeht. Es heißt:
David fragte Gott: "0 Herr, warum hast Du die Welten geschaffen?"
Gott antwortete: "Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden; deshalb schuf Ich die Welt." Die göttlichen Namen, so sagt Ibn 'Arabi, sehnten sich in der absoluten Einsamkeit der göttlichen Einheit nach Wirkung und brachen, gleich einem allzulange zurückgehaltenen Atemhauch, in die Nicht-Existenz, die nun wie bis dahin nicht sichtbare und vom Licht getroffene Glasstückchen die Namen reflektierte und dadurch selbst eine kontingente Existenz gewann, die freilich nur so lange währt, als das kontingente Sein mit der göttlichen Lichtquelle verbunden bleibt. Die Welt ist wie ein Spiegel Gottes, und es sind die Namen, die in ihr wirken. Jeder Name hat seine Empfänger, seine Wirkungsstätten, und so ist die Absolute Einheit des deus absconditusbig bang. gewahrt, während die Namen für die Vielheit der erkennbaren Manifestationen verantwortlich sind. Die Welt existiert, entstanden durch eine Art mystischen
Die göttlichen Namen nun, wie sie im Koran offenbart sind, werden in lutfiyya und qahriyya eingeteilt, d. h. solche, die mit Gottes Huld und Gnade (lutf) zusammenhängen, und solche, die sich auf Gottes Zorn und Zwangsgewalt (qahr) beziehen. Was uns gut und böse scheint, ist dem Wirken dieser Namen zu verdanken: In Beziehung zu Gott haben sie gleichen Wert, doch in Beziehung zum Menschen müssen Unterscheidungen gemacht werden, da sonst Gut und Böse hoffnungslos vermischt würden und damit das Gesetz seinen Sinn verlöre.
Maulana Rumi, der größte mystische Dichter des Islam (1207-1273), erklärt das so:
Wenn die Derwische sagen, "Alles ist gut; meinen sie, alles ist gut und vollkommen in Beziehung zu Gott, nicht in Beziehung zu uns. ( ... )
Ein König hat in seinem Gebiet Gärten, Gefängnisse und Galgen, Ehrenkleider und Reichtum, Hofstaat und Ländereien, Festfeiern und Frohsinn, Trommeln und Fahnen. In Beziehung zum König sind alle diese Dinge gut. Ebenso wie Ehrenkleider zur Vollkommenheit seines Königtums gehören, so sind auch Galgen und Kerker und Hinrichtung Zeichen der Vollkommenheit seines Königtums. In Beziehung zu ihm sind alle diese Dinge vollkommen - aber wie wären Ehrenkleid und Galgen für sein Volk ein und dasselbe? Beide, Gnade und Zorn, sind notwendig, denn durch den Akt der Schöpfung manifestierte sich die absolute göttliche Einheit in Zweiheit und Vielheit, der unerkennbare eine und alleinige deus absconditus manifestierte sich als deus revelatus unter den beiden komplementären Aspekten von dschalal und dschamal, der Macht und der Schönheit, des mysterium tremendum und des fascinans, und alles in der Welt untersteht einer dieser beiden Manifestationen. Das Wirken Gottes in dieser Welt gleicht dem positiven und negativen Pol, zwischen denen der elektrische Strom läuft: Weder kann Tag ohne Nacht noch Mann ohne Weib, Freude ohne Gram vorgestellt werden. Wenn der Einsichtige dieses Gewebe betrachtet, das Gott verhüllt und doch ahnen läßt, versteht er etwas von der Weisheit des unerkennbaren Schöpfers, der, wie ein mittelalterlicher persischer Meister sagt, "aus dem gleichen Eisenstück ein Hufeisen für ein Maultier und einen Spiegel für einen Herrscher machen kann". Aber Seine schöpferische Weisheit zeigt sich im allmählichen Geben: "Es gibt nichts, dessen Schatzkammern nicht bei Uns sind, und Wir senden es herab in bestimmtem Maße" (Sura 15:21). Es wird kommen, wenn es benötigt wird.
III.
Es ist verständlich, daß der Muslim unter Gottes Namen diejenigen am meisten liebt, die Ihn als gnädig, huldvoll, liebend, verzeihend schildern. Da unzählige muslimische Eigennamen aus dem Wort 'abd, "Diener, Sklave" (bei Mädchen amat, "Dienerin"), und einem der Gottesnamen gebildet werden, ist es nicht überraschend, häufig Männer mit Namen 'Abdur Rahman, "Diener des Barmherzigen", 'Abdur Rahim, "Diener des Erbarmers", 'Abdul Ghaffar, "Diener des AllVergebenden" oder 'Abdul Karim, "Diener des Gnädigen", u. ä. zu finden, denn man erhofft die Wirkungen dieser Namen auf das mit ihnen benannte Kind. (Ein nach dem Tode vieler Geschwister geborener Knabe wird daher oft 'Abdud Da 'im, "Diener des Ewig-Währenden", genannt.)
Trotz dieser Namen der Güte und Huld konnte der Koran mit seiner Emphasis auf Gott, den Richter und Gerechten, mit seinen zahlreichen Beschreibungen von Höllenstrafen und Strafgerichten den Herzen der Muslime viel Furcht einflößen. Berichte aus der Geschichte, vor allem aus der Frühzeit, zeigen, daß der Sünder immer die Gerechtigkeit Gottes fürchtet, und Schilderungen asketischer Frommer, die sich um ihrer Sünden willen die Augen ausweinten oder unsagbar harte Bußübungen auf sich nahmen, erscheinen in der gesamten klassischen und nachklassischen Literatur. Es war eine Frau, Rabi'a von Basra (gest. 801), die in die asketische Furcht erstmals den Gedanken der reinen Gottesliebe einführte und lehrte, man solle Gott weder aus Furcht vor der Hölle noch aus Hoffnung aufs Paradies anbeten, sondern einzig und allein um Seiner unendlichen Schönheit willen. Doch blieb die Furcht vor Gottes Zorn, wie er so dramatisch im Koran geschildert wird, immer ein lebendiges Element in der Frömmigkeit, und man formulierte den Gedanken, daß Furcht und Hoffnung wie zwei Flügel seien, die den Menschen zum Ziele führen, weil sie ihn im Gleichgewicht halten. Ja, Theologen wie der große persische Sufi Yahya ibn Mu'adh (gest. 874), der "Prediger der Hoffnung", wurden von ihren Zeitgenossen getadelt, weil ihren Predigten das heilsame Element der Furcht fehlte. Und doch haben Yahyas kurze Gebete viele Nachahmer gefunden, denn schließlich betet der Muslim ja mindestens fünfmal am Tage die Fatiha, die erste Sura des Korans, die, wie jedes Kapitel des heiligen Buches, mit der Formel bismi'llahi'r-rahmani'r-rahim beginnt, "Im Namen Gottes des Allbarmherzigen des Allerbarmers und abgesehen davon sollte jedes Werk mit diesen Worten beginnen, die den Menschen immer wieder an Gottes große Barmherzigkeit erinnern. Die Hoffnung auf Seine Barmherzigkeit sollte größer sein als die Furcht vor Strafe, denn, wie der große Theologe al-Ghazzali (gest. 1111) sagt, "Der Mensch lebt zwischen Schuld und Huld, und es ziemt ihm nur das Lob und die Bitte um Vergebung."
So betet Yahya ibn Mu'adh:
0 Gott, um meiner Schlechtigkeit willen fürchte ich Dich,
und um Deiner Güte willen hoffe ich auf Dich,
so enthalte mir Deine Güte nicht um meiner Schlechtigkeit willen vor! Und mehr als vier Jahrhunderte später spricht Ibn 'Ata' Allah (gest. 1309) in Ägypten: Mein Gott, wie viele Gehorsamswerke ich erbaut hatte,
und wie viele Gnadenzustände ich erschaut hatte -
Deine Gerechtigkeit hat mein Vertrauen auf sie zerstört,
Doch nein! Deine Güte hat mich ihrer enthoben. Die Gedichte der großen Mystiker sind durchdrungen von der leidenschaftlichen Liebe zu Gott, dessen Wirken freilich so wunderbar ist, daß man sich Ihm nur in staunender Ehrfurcht nahen kann. Dieses Gefühl der anbetenden Verwirrung vor den Werken des Schöpfers, dessen Weisheit unauslotbar ist, bildet einen wichtigen Teil der gesamten islamischen Literatur und kann selbst bei nicht als "fromm" einzustufenden Dichtern gefunden werden.
IV.
Aber selbst wenn die Frommen immer auf Gottes Barmherzigkeit hofften und hoffen, wußten sie doch, daß der Koran Gott auch als den "besten Ränkeschmied" bezeichnet (Sura 3:54 u. a.); denn Er kann jeden Augenblick etwas völlig Unerwartetes tun, kann auch in der frömmsten Handlung eine Falle verbergen, so daß man niemals sich in Sicherheit wiegen darf. "Ich erkannte meinen Herrn dadurch, daß Er meine Pläne zunichte machte", sagt 'Ali ibn Abi Talib, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammad, dessen Aussprüche von besonderer Tiefe und Schönheit sind.
Mehr noch: Wer ist gegen Gottes Gerechtigkeit gefeit? Daud Rahbar hat in seinem großen Buch God of Justice (Leiden 1961) zu zeigen versucht, daß das zentrale Attribut Gottes Seine Gerechtigkeit ist. Er folgt damit bis zu einem gewissen Grade den Lehren der Mu'taziliten, die im ausgehenden 8. und im 9. Jahrhundert die Lehre von 'adl wa tauhid, "Gerechtigkeit und Monotheismus", vertraten. Das bedeutet, sie akzeptierten keine mit Gott gleich-ewigen Attribute, da diese die absolute Einheit Gottes beeinträchtigen würden, und sie postulierten, daß Gott gerecht sein muß, Gutes belohnen, Böses bestrafen muß - wodurch Er ein Gefangener Seiner eigenen Gerechtigkeit würde; und dem freien Menschen tritt ein durch Seine Gerechtigkeit unfreier Gott gegenüber, so daß kein Raum für Gnade bleibt.
Die scholastischen Definitionen, die wir anfangs erwähnten, wurden als ein gewisses Korrektiv solcher Spekulationen entwickelt, aber sie führten auch dazu, daß der lebendige Gott des Korans sich gewissermaßen zurückzog und zumindest in der Theologie seinen dynamischen Charakter zu verlieren schien. Wie weit das Volk, die frommen Menschen, von solchen Gedanken beeinflußt wurden, kann man schwer feststellen. Bei ihnen herrschte wahrscheinlich der Glaube an den Gott vor, der Paradies und Hölle geschaffen hatte, und ihre Akzeptanz der im Koran gegebenen Gebote und Verbote dürfte wohl weitgehend von den glühenden Bildern von Paradies und Hölle beeinflußt gewesen sein, die die populären Prediger ihnen in immer größerer Farbenpracht vorstellten.
Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit und Seiner Gnade, von Strafe und Vergebung wurde kompliziert einmal durch den Gedanken der Prädestination, der in seiner krassesten Form den Geretteten für "bereits im Mutterleib zur Rettung Bestimmten" erklärt, und zum anderen durch die Entwicklung der Rolle des Propheten Muhammad, der am Jüngsten Tage erscheinen wird, um für die Sünder seiner Gemeinde Fürsprache einzulegen: Denn wenn an jenem dies irae jeder, auch die größten Propheten wie Moses und der sündlose Jesus, rufen werden "nafsi nafsi, Ich selbst, ich selbst (will gerettet werden)", so wird Muhammad rufen "ummati ummati - meine Gemeinde, meine Gemeinde (soll gerettet werden)". Diese in frühislamische Zeit zurückgehende Überlieferung wurde zum Trost für Millionen und Abermillionen von Frommen und hat ihr Echo in zahllosen Gedichten und Gebeten in der islamischen Welt von Westafrika bis Malaysia gefunden. Durch den Glauben an Muhammads Fürsprache wurde natürlich die herrschende Furcht vor Gottes Zorn, aber auch die Angst vor Seiner Gerechtigkeit nivelliert, und die Hoffnung wurde verstärkt.
Es muß in ziemlich früher Zeit gewesen sein, daß die außerkoranische Tradition "Meine Barmherzigkeit ist größer als Mein Zorn" aufkam, und sie ist durch die Jahrhunderte wiederholt worden und hat die Menschen getröstet. Dazu kommt eine andere Überlieferung gleicher Art, in der Gott sagt: "Ich bin so, wie Mein Diener von mir denkt", d. h., wer auf Mich hofft, den lasse Ich nicht zuschanden werden. Maulana Rumi erzählt die folgende Geschichte:
Jesus lachte viel, und Johannes weinte viel. Und sie waren Vettern. Johannes sagte zu Jesus: "Du bist wohl ganz sicher gegen die feinen Tricks Gottes, daß du soviel lachst?" Jesus antwortete: "Du übersiehst wohl die subtilen und wundervollen Gnaden Gottes, daß du soviel weinst?"
Ein Heiliger war anwesend und fragte Gott, welcher von beiden Ihm lieber sei? Gott antwortete: "Derjenige, der besser von Mir denkt." Das heißt, Mein Diener hat ein Bild und eine Vorstellung von Mir. Welches Bild er sich von Mir mache, da bin Ich ... Aber hat nicht der Gedanke eines von Gott vorherbestimmten Geschickes eine lähmende Wirkung auf das menschliche Leben? Tor Andrae hat einmal bemerkt, daß der Glaube an die Prädestination aus der tiefsten Ehrfurcht vor Gottes Allmacht entspringt. Man hat den islamischen Fatalismus oft falsch verstanden: Denn der Muslim sollte sich nicht tatenlos dem Schicksal überlassen (wie es freilich oft geschehen ist), denn das würde der im Koran immer wieder betonten Verpflichtung zum Wirken in der Welt, zur Ausführung guter Taten und Werke widersprechen: Denn auch die kleinste Guttat, die kleinste Sünde wird ihre Frucht tragen (Sura 99). Fatalismus ist oft als Vorwand zum Sündigen mißbraucht worden, wie zahlreiche Geschichten und Anekdoten beweisen. Was man tut oder tun sollte, ist, das einmal Geschehene zu akzeptieren, weil man glaubt, daß Gott in jedem Augenblick am besten weiß, was der Mensch braucht-, aus einem solchen Glauben kann dann der oder die von einem Schicksalsschlag Betroffene dem Geschehen einen Sinn abzugewinnen suchen. Wer einmal erlebt hat, wie eine alte Türkin nach dem Tode ihres zehnten und letzten Sohnes aus ihrem tiefen Glauben an die Weisheit des Schöpfers heraus diejenigen trösten konnte, die ihr kondolierten, versteht, was ich meine. Es ist die Haltung: "Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen gelobt sei der Name des Herrn!" die die tiefste muslimische Frömmigkeit durchzieht: absolute Hingabe, islam, an den Willen Gottes.
V.
Freilich, im Islam, wie auch in anderen Religionen, ist das Ideal des ganz reinen Monotheismus immer wieder in einer oder der anderen Weise getrübt worden, denn die Menschen sehnten sich nach einem Wesen, zu dem sie sprechen, an das sie sich anlehnen konnten - aber weder die Katechismen noch die philosophischen Gottesbeweise halfen ihnen dabei. Gott war vielen von ihnen ferngerückt, war unter abstrakten Definitionen verschwunden - so sehr, daß europäische Orientalisten des 19. Jahrhunderts den Islam geradezu als "deistische" Religion bezeichneten, in der sich dann alle Arten fremdartiger Gewächse ansiedelten. Dazu gehörte nicht nur eine Verehrung des Propheten, die den Idealen Muhammads selbst sicher nicht entsprach, da er sich als "Mensch, dem offenbart ward" verstand. Aber noch auffallender ist der Heiligenkult: Die Grabstätten der Heiligen (korrekt: "Freunde Gottesl - seien sie große Mystiker oder kleine Dorfheilige, Männer und Frauen wurden und werden besucht; sie sind gewissermaßen die Zwischenhändler oder göttlich approbierte Boten zwischen Mensch und Gott, die die menschlichen Bitten vor Gott bringen, genau wie die Boten eines Sultans die Petitionen der Untertanen zum Fürsten bringen. Und die Männer, die solche Grabstätten verwalten - oft Abkömmlinge des dort Begrabenen - haben häufig einen ungeheuren politischen und sozialen Einfluß auf ihre Anhänger. Es ist verständlich, daß die schrifttreuen Theologen (die Fundamentalisten eingeschlossen) Heiligenkult und Mystik deshalb so sehr verdammen, weil der reine Glaube an den einen, immer und überall wirkenden Gott durch diese Strömungen verdunkelt wird - sind nicht die vom Volke verehrten Heiligen ähnlich gefährlich wie die vorislamischen Gottheiten?, fragt ein indischer reformatorischer Mystiker in Delhi im 18. Jahrhundert.
VI.
Wo ist der Gott, der Sein Wort in alle Propheten seit Adam legte und sich abschließend im Wort des Korans offenbarte? Gewiß, ein außerkoranisches Gotteswort sagt: "Wer den Koran rezitiert, ist, als rede er direkt mit Mir." (Daher auch die Notwendigkeit, Gott im Gebet mit Seinen eigenen Worten, das sind die Koranverse, anzureden, die im Ritualgebet wie auch sonst immer nur im originalen Arabisch gesprochen werden dürfen.)
Wo findet man den Weg zu diesem einen Gott? Die Befolgung Seiner im Koran gegebenen Gebote ist sicherlich der einfachste und sicherste Weg, aber - so fragen die Modernisten, wie es schon lange vorher einige Mystiker getan hatten - wenn Gott unendlich ist, sind nicht auch Seine Worte unendlich, wie ja Sura 18:109 bezeugt? Und sind sie dann nicht immer wieder neuer Auslegung fähig? Öffnet die Lektüre des Korans dem Einsichtigen nicht ein immer tieferes Verständnis für die Mysterien des göttlichen Willens, die nicht in jahrhundertealten Kommentaren einzuschließen sind? Hier setzt die Problematik ein: Wie soll der Mensch das koranische Wort wirklich verstehen? Wie soll er, in Furcht und Hoffnung, Gott anrufen? Welche Sprache soll er verwenden (denn eine Mehrzahl der Muslime unserer Zeit ist des koranischen Arabisch nicht mächtig, und viele leben in einer völlig modernen westlichen Gesellschaft, kennen nichts mehr von ihrer eigenen Tradition). Kann Gott mit den theologischen Kategorien des Mittelalters umschrieben werden oder eher mit den Definitionen der Mystiker?
Der indo-muslimische Dichter-Philosoph Muhammad lqbal (1877-1938) hat in seiner Dichtung und in seinen Six Lectures on the Reconstruction of Religious Thought in Islam darauf hingewiesen, daß Gott das alles umfassende Ich ist, nicht eine statische Größe, sondern ein lebendiges, wenn auch unbeschreibbares persönliches Wesen, mit dem der Mensch in einen Person-zu-Person-Dialog eintreten kann. Denn im Koran spricht Gott ja: "Rufet Mich und Ich will antworten" (Sura 40:62). Was lqbal andeutet, ist, daß das Ziel des Gläubigen nicht ein Versinken im unauslotbaren Ozean einer allumfassenden Gottheit ist, nicht die Annahme einer scholastisch definierten unlebendigen göttlichen Macht, sondern eine persönliche Beziehung zu dem, dessen Thron Himmel und Erde umfaßt, der sich aber in historischen Ereignissen, in der Natur, im Menschen offenbart, der Seine "Zeichen in den Horizonten und in euch selbst" erscheinen läßt (Sura 41:63).
Wie weit lqbals Ideen und die Versuche moderner, teils mystisch, teils fundamentalistisch ausgerichteter Muslime dabei helfen können, die Muslime unserer Zeit zu beleben, ihnen den Weg zu dem weisen und gütigen, gerechten und doch barmherzigen Gott zu zeigen, bleibt dahingestellt. Ja, es erscheint mir typisch, daß in den meisten Diskussionen heutzutage ethische, politische und soziologische Themen behandelt werden, während das eigentliche Zentrum des Glaubens, das Gottesbild und das Bild des sich vertrauensvoll und ehrfurchtsvoll zu diesem Gott wendenden Muslims nicht angesprochen wird, obgleich von hier aus viele Probleme gelöst werden könnten. In jedem Fall kann das Bild Gottes als eines gewaltigen, rücksichtslosen Tyrannen, wie man es oft bei westlichen Kritikern findet, sicher nicht aufrechterhalten werden. Gott, wie der Islam Ihn sieht, bleibt jenseits aller menschlichen Begriffe und ist doch Schöpfer, Erhalter und Richter-, Er bleibt verborgen und ist doch immer offenbar, indem Er Seine Zeichen setzt und durch Seine Gesandten spricht.
Vielleicht die schönste Beschreibung dieses Gottes findet sich in Maulana Rumis Prosawerk, wo er schreibt:
Verstand ist das, was immer, Tag und Nacht, ruhelos ist, denkend und sich anstrengend und versuchend, Gott zu begreifen, selbst wenn Gott unerfaßbar und unbegreiflich ist, das heißt, außerhalb unserer Denkweise liegt. Verstand ist wie ein Falter, und der Geliebte wie eine Kerze. Wenn immer der Falter sich auf die Kerze stürzt und verbrennt und zerstört wird, so ist der richtige Falter doch so, daß er, so sehr er von der Qual desVerbrennens und vom Schmerz leidet, es doch nicht ohne die Kerze aushalten kann. Gäbe es irgendein Tier wie den Falter, das es ohne die Kerze aushalten könnte und sich nicht in dieses Licht stürzte, so wäre das kein richtiger Falter: Und falls der Falter sich ins Kerzenlicht stürzte und die Kerze ihn nicht verbrennte, so wäre das keine richtige Kerze. Deshalb ist der Mensch, der es ohne Gott aushalten kann und keinerlei Anstrengungen macht, überhaupt kein richtiger Mensch; aber falls er Gott begreifen könnte, so wäre das nicht Gott. Deshalb ist der wahre Mensch einer, der niemals von Bemühung frei ist, der ruhelos um das Licht der Majestät und der Schönheit Gottes kreist. Und Gott ist es, der den Menschen verbrennt und ihn zunichte werden läßt, und kein Verstand kann Ihn erfassen
.Zur weiteren Lektüre: J. Chr. Bürgel, Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991; Mohammed Iqbal, Six Lectures on the Reconstruction of Religious Thought in Islam, Lahore 1930 u. ö.; R. Hartmann, Die Religion des Islam, 2. durchgesehene Auflage, Darmstadt 1991; Dschalaladdin Rumi, Fihi ma fihi, dt. v. Annemarie Schimmel, Von allem und vom Einen, München 1989; Annemarie Schimmel, Deciphering the Signs of God, Edinburgh 1994; dies., Gabriel's Wing. A. Study into the Religious Ideas of Sir Muhammad Iqbal, Leiden 1963; dies., Mystische Dimensionen des Islam, Köln 1987; dies., Dein Wille geschehe. Gebete aus dem Islam, 2. Auflage, Bonndorf 1993.
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