Sufizentrum Braunschweig
  Die smaragdene Vision
 

Erleuchtung aus der Sicht des Sufitums 


Die smaragdene Vision des Herzens Himmelfahrt zum allumfassenden Sinn des Lichtmenschen
Hamdi Alkonavi
 

Maulana Jalaluddin Rumi sagt: „Es gibt ein Geheimnis, das sich im inneren Herzen befindet – das verborgene Selbst, ewig und unbekannt. Alles was erschaffen wurde, ist mit diesem Geheimnis verbunden. Selbst die Himmelssphären drehen sich wegen dieses Geheimnisses. Es gibt eine Seele in deiner Seele. Suche deine Seele. Suche das verborgene Juwel, den Smaragd im Berg deines Körpers." Wir können die Dinge der äußeren Welt mit all ihren Erscheinungen nicht wirklich beurteilen, da unser Denken ein Prozess der Unwissenheit ist. Um wirkliches Wissen zu erlangen, brauchen wir nicht mehr den Umweg über den Kopf und unseren Verstand zu gehen. Das wahre Wissen schlummert im göttlichen Funken unseres Herzens. Durch die Versenkung in die Stille des Herzens werden wir zum „Denker, der nicht denkt“. Im Herzen sind wir in unserer Mitte und haben Zugang zum göttlichen Funken.  Das äußere Denken findet an der Peripherie und nicht in der Mitte statt. Äußeres Wissen ist ohne die innere Erfahrung nutzlos. Beim bloßen Verstandesdenken geht es um Wissensanhäufung. Durch die Meditation des Herzens werden wir zu inneren Erfahrungen geführt. Indem wir uns in einen Zustand völliger Entspannung begeben, steigen die inneren Erfahrungen aus den Tiefen unseres Herzens empor und wir empfangen göttliches Wissen. Es ruht im göttlichen Funken, im „Gottes-Atom“. Doch erst einmal müssen wir uns anstrengen, um den Zustand höherer Wahrnehmung zu erreichen. Der Spiegel unseres Herzens ist das allsehende Auge Gottes. Das Mittel, es zu öffnen, ist der Prozess des Sich-Erinnerns. Mit der Öffnung im Herzen erreichen wir die höchste Erleuchtung.   Intuition Die großen Mystiker und Propheten haben stets gesagt, dass es im Herzen des Menschen eine Substanz gibt, die durch die Liebe aktiviert werden kann. Diese Substanz kann uns zur unmittelbaren Erkenntnis aller Dinge führen. Sie stimmt uns ein auf all die Dinge, all die Informationen, die in der Weite des Herzens wie in einem elektromagnetischen Feld gespeichert sind. Durch eine harmonische Einstimmung auf unser Herz erhalten wir alle Schätze der Himmel und der Erde. Der göttliche Funke ist wie durch ein Siegel verschlossen. Wenn es geöffnet wird, wird uns der Weg freigegeben, die sieben Erden und acht Himmel zu bereisen – die Himmelfahrt der Seele beginnt. Die Seele bringt die Substanz, die durch den göttlichen Funken erzeugt worden ist, bereits mit, wenn sie in den Körper inkarniert. Es ist die Substanz, aus der sie selbst besteht: der all-wahrnehmende Sinn oder das Licht der Intuition. Der all-wahrnehmende Sinn ist der Reisende auf dem inneren Pfad, der Himmelfahrt der Seele, der Lichtmensch, der durch die Seelensubstanz erzeugt wird. Er ist unser Zeuge im Himmel, er ist neutraler Beobachter und Schutzengel, der uns vor Unheil und Unfällen beschützt. Er darf nicht mit unserem subjektiven Ich verwechselt werden. Der Lichtmensch ist universell und gehört zu allen Menschen. Nur er ist der Reisende. Daher sagt man, der Reisende und der Pfad seien eins. Denn der Pfad ist nichts weiter als die Substanz unserer Geistseele, die sich entwickelt, um zu Gott, der in den Himmeln ist, aufzusteigen. Also ist der Pfad nichts anderes als die Substanz in der Form des Lichtmenschen, der zu Gott zurückkehrt.  Diese Substanz ist Intuition, all-wahrnehmender Sinn, Reisender auf dem Pfad zu den Himmeln in die göttliche Gegenwart. Die Intuition ist der weibliche Teil unserer Seele, der empfangende Teil; die Inspiration ist ihr männlicher Teil, das, was von ihr ausgeht. Beide zusammen bilden die Geist-Seelen-Einheit des göttlichen Funkens im Herzen. Die Intuition kann nur durch den Glauben und die Liebe erweckt werden. Man muss lernen zu lauschen, zu hören, was die Stimme des Herzens, unsere Intuition, sagt. Durch Eingebungen und Inspirationen wird der Intellekt, unser Wissensspeicher, gebildet. Intuition ist die Möglichkeit, mit der inneren Welt der Seele in Kontakt zu kommen und Zugang zu der ewig gegenwärtigen Welt des Geistes, der göttlichen Gegenwart, zu erhalten. Intuition ist wie ein Blitz, der plötzlich aufleuchtet und den Wissensspeicher für den Intellekt freigibt. Alle neuen Entdeckungen und Erfindungen der Wissenschaft und der Kunst werden durch Intuition möglich. Sie kommt plötzlich zu uns, nachdem wir uns lange und intensiv mit einem Gebiet beschäftigt haben.  Rudolf Steiner sagt: Wir brauchen erst eine Atmosphäre der Inspiration, um dann Intuition empfangen und eine Vision aus uns hervorbringen zu können. Um die Vision zu erlangen, müssen wir uns ganz der inneren Arbeit an uns selbst hingeben. Nur durch Hingabe erreichen wir einen vollkommenen Glauben. Nur wenn wir mit aller Anstrengung und aller Willenskraft an uns arbeiten, wird sich das Auge unseres Herzens öffnen und werden wir die smaragdene Vision des Herzens erleben. Durch sie wird unser Glaube vollkommen und erreichen wir die Glaubensgewissheit, die Erleuchtung. Die Arbeit an uns selbst muss uns zu einer Überanstrengung führen, die uns ganz leer macht und uns für die inneren Bilder und Visionen des Herzens öffnet. Die Arbeit und die Anstrengungen, die wir auf uns nehmen, führen dazu, dass unser äußerer Verstand müde und leer wird. Wenn er auf diesem Wege ausgeschaltet ist, kann der Funke in unserem Herzen aufleuchten und Inspirationen und Visionen werden uns geschenkt. Der allwahrnehmende Sinn, das Auge in unserem Herzen, öffnet sich für die Welt des reinen Geistes, in der das Wissen von allen Dingen enthalten ist. Die Seele wohnt „im Westen“, im Okzident des reinen Geistes. Geist und Materie sind in Wirklichkeit eins und lassen sich nicht voneinander trennen. Daher liegt der Schlüssel zur Welt des Geistes im Herzen des Menschen, worin seine Seele ruht. Die Geistseele des Menschen ist es, die die Kammern des Herzens öffnet und damit den Zugang zum göttlichen Funken, der in unserem Herzen schläft, herstellen kann. Je höher wir zu den Himmeln aufsteigen, desto feiner und subtiler sind die Schwingungen, die wir mit unseren Herzen aufnehmen. Den Zugang zu den Himmeln erreichen wir also durch die Resonanz des Herzens mit den himmlischen Stationen. Es gilt, die eigene Seelen-Schwingung anzuheben zu der der sieben Himmel, der sieben Planetenkräfte, der sieben Oktaven, der sieben Spektralfarben des Lichts. Mit ihnen müssen unsere sieben feinstofflichen Zentren in Übereinstimmung gebracht werden. Je harmonischer ein Mensch auf die sieben Himmel eingestimmt ist, desto größer wird auch sein Zugang zu ihnen sein.  Goethe sagt: „Verstand und Vernunft sind ein formelles Vermögen, das Herz liefert den Gehalt, den Stoff." Weisheit besteht darin, dem Herzen zu vertrauen und der Stimme der Intuition zu folgen. Wenn der Mensch lernt, auf die Stimme seines Herzens zu hören, ist er fähig, wirklich intuitiv zu leben.  Der Weise sagt: „Ihr denkt, dass ihr mit dem Kopf denkt, jedoch wirklich denken könnt ihr nur mit dem Herzen."   Liebe Um diese Fähigkeit zu erreichen, brauchen wir die weibliche Seite der Liebe. Sie ist das rote Blut; im Herzblut erklingt die Stimme der Geistseele. Die Intuition ermöglicht es uns, zu einem Mittler und Brückenbauer zwischen dem Himmel, der Ewigkeit, und der Erde, der Vergänglichkeit, zu werden. Sie verleiht uns vergänglichen, sterblichen Wesen die Fähigkeit, die Himmel der Unsterblichkeit und Ewigkeit zu erreichen. Wie eine Blume, eine Rose, wächst die Geistseele aus dem Urgrund unseres Herzens in den Himmel der Unsterblichkeit. Die Rose des Herzens ist das göttliche Urprinzip. Sie wächst dort, wo die göttliche Welt das Herz berührt. Die Rose symbolisiert das geistige Urprinzip im Herzen. Je höher und weiter sie wächst, umso feiner, reiner und schöner wird die Substanz unserer Geistseele. Je größer unser Herz wird, desto höher wächst die Rose unserer Geistseele und desto mehr Lebenskraft erhalten wir aus dem Urgrund des Herzens.  „Jene, die wissen, wissen nichts, wenn sie nicht die Kraft der Liebe besitzen", sagt ein Weiser. Und weiter heißt es: „Weise ist nicht der, der sieht, sondern der, der durch die Kraft der Liebe sieht, er blickt am Weitesten. Zu sehen, ohne zu lieben, bedeutet, in die Dunkelheit zu blicken." Goethe sagt im Faust: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt." Je größer unsere Lebenskraft ist, desto stärker wird das Licht der Intuition uns erleuchten können. Mit der Intuition erkennen wir allmählich, dass das Wunder die einzige wahre Wirklichkeit ist. Die Erscheinungen der äußeren Welt, die dem Menschen als Wunder erscheinen, sind in Wirklichkeit nur Ausdruck der allumfassenden Wahrheit, die wie ein Wunder auf uns wirken kann. Intuition ist die Fähigkeit, mehr und mehr mit den Himmeln der Unsterblichkeit eins zu werden. Wer diese Einheit erreicht, ist erleuchtet.  Martin Buber sagt: „Alle Reisen haben einen geheimen Bestimmungsort, von dem der Reisende nichts weiß.“   Wegweiser Die Pilgerfahrt innerhalb des Herzens führt zur Erweckung des Lichtmenschen. Es ist die Reise von der Trennung zur Vereinigung des Lichtmenschen mit Gott. Die Sufis sagen: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, ja so viele, wie die Atemzüge der Menschenkinder." Dabei gibt es Wegweiser und Stationen. Für die Reise zu uns selbst, dem Lichtmenschen, brauchen wir eine Landkarte des Bewusstseins. Sie setzt sich aus den Organen des Bewusstseins, den Chakren bzw. Lataifs, den feinstofflichen Zentren, zusammen. Von den sieben bekannten Chakren, die den sieben Farben des Regenbogens entsprechen, arbeiten die Sufis vor allem mit dem Herzen, dem Herzchakra, dem sie fünf geheime Kammern im feinstofflichen Zentrum des Herzens zuordnen. Beim Weg des Herzens geht es um die Auflösung des eigenen Ichs. Erst wenn dieses ausgelöscht worden ist, kann die Auferstehung des inneren Menschen, des Lichtmenschen, beginnen. Die Reise geht in die Einheit allen Seins. Die Sufis bezeichnen sie als Himmelfahrt innerhalb des Herzens. Sie führt sie zur Transformation vom subjektiven Traumzustand der äußeren Welt zur inneren Wirklichkeit. So sagt Rumi: „Wenn du die Kraft nicht hast, im Äußeren zu reisen, so reise wenigstens in dir selbst."  Im Herzen beginnt die Reise. Sie führt dich zur göttlichen Wirklichkeit, die hinter 70.000 Schleiern aus Licht und Dunkelheit verborgen ist, in das Geheimnis hinter dem Geheimnis hinter dem Geheimnis … Jedoch leben die meisten Menschen ausschließlich in der äußeren Welt und schauen niemals hinter die Schleier ihres Egos. Das Leben des äußeren Menschen, der Persönlichkeit, ist ein Traumzustand, den uns unsere fünf Sinne vorgaukeln. Sie suggerieren uns, dass die sinnlichen Wahrnehmungen die wahre Wirklichkeit seien.  Sie finden wir indes nur in der inneren Welt des Übersinnlichen. Der Mensch ist Bewohner der beiden Welten, sowohl der materiellen äußeren Welt der fünf Sinne, als auch der inneren Dimensionen des spirituellen Herzens. Diese Dimensionen öffnen sich uns durch die Reise oder die Himmelfahrt, die im Herzen beginnt. So sagt der Prophet Gottes Mohammed – Allahs Frieden und Segen seien auf ihm – in einem besonderen Ausspruch: „Die äußere Erde und der äußere Himmel können das Wesen Gottes niemals ganz umfassen, jedoch das spirituelle Herz eines wirklich gläubigen Dieners kann die Wirklichkeit Gottes erfassen." Vor dieser absoluten Wirklichkeit liegen 70.000 Schleier. Hinter jedem von ihnen verbirgt sich eine andere Dimension des ewigen Seins Gottes, dessen Reich unendlich ist. Um diese innere Dimensionen in unserem Herzen kennenzulernen und zu erreichen, brauchen wir den Lichtkörper oder Astralkörper als Gefährt. Die Himmelfahrt beginnt, indem wir Organe des Bewusstseins oder des Lichtes in uns selber erschaffen. Wir werden Mit-Schöpfer. Erst wenn diese subtilen Organe in uns anfangen, in den verschiedensten Farben zu leuchten, können wir die äußere Welt der Materie und des Körpers überschreiten. So werden wir zum Brückenbauer zwischen den beiden Welten: der des Körpers bzw. der Materie und der des Geistes bzw. des Lichtes.  Von Anbeginn der Zeiten sind dem Menschen spirituelle Praktiken gegeben worden, um Zugang zu den inneren Welten des Lichtmenschen zu bekommen. Die Erfahrung der Einheit ist Ziel und Zweck jener Reise, die erst dann beginnt, wenn wir im Herzen angekommen sind. Die Erfahrung der Einheit birgt die Erkenntnis, dass es kein getrenntes Ich gibt, welches diese Reise vollbringen könnte. Wenn wir im Herzen angekommen sind, erfahren wir das „Nichts“, aus dem alles hervorgeht. Es befindet sich in den Kammern des Herzens und wartet im Ur-Grund auf uns. Es ist der Abgrund, in den wir schauen müssen, um die Auslöschung des Ichs zu erreichen. Dieses Nichts ist die absolute Wahrheit Gottes. Wenn wir die Erfahrung machen, dass am Ur-Grund des Herzens „nichts“ ist, kommt plötzlich die Erleuchtung und der göttliche Funke entzündet sich wie eine Flamme. Der Same, der göttliche Lichtfunke, der von Gott in unsere Herzen gesät worden ist, fängt durch die Stille und die Erfahrung des Nichts plötzlich an zu keimen. Dies wird durch eine einfache Übung anschaulich dargestellt: Wenn es uns gelingt, für einige Augenblicke dem Atem und der Stille im Herzen zu lauschen und wir dies häufig wiederholen, werden die Kammern des Herzens langsam geöffnet und  immer mehr erwacht ein Bewusstsein, das schließlich zur Erleuchtung und zur Geburt des Lichtmenschen in uns führt. Hierzu der Lichtvers aus dem Koran (24:35):  „Gott ist das Licht des Himmels und der Erde. Sein Licht ist einer Nische zu vergleichen mit einer Lampe darin, einer Lampe in einem Glas. Wie ein funkelnder Stern brennt sie mit einem Öl von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum. Der Baum ist weder östlich noch westlich, sein Öl gibt Licht, fast ohne Feuer, Licht über Licht." Der Prozess der Erleuchtung in fünf Schritten wird in diesem Vers deutlich. Der Lichtvers gibt uns Auskunft über die Struktur der Seele, die durch die fünf Sinne wahrgenommen werden kann. Dabei verwandeln sich die normalen Sinne allmählich in „Sinne für das Über-Sinnliche“. Sie sind das Eingangstor zu dem ersten, dem ewigen Element (Äther), aus dem die vier Elemente hervorgehen.  Der erste Sinn ist das „Hören“ mit dem Element Erde; er bildet alle sinnlichen Erfahrungen in der Seele des Menschen heran. Daher das Symbol der Nische (1), in der sich alle sinnlichen Erfahrungen (Sehen, Hören, Schmecken usw.) konzentrieren.  Als Zweites folgt der „Sehsinn“; er ist für die Entwicklung des Verstandes notwendig, denn ohne Verstand besitzen wir keine innere und äußere Einsicht in die Bilder der äußeren Welt. Daher führen Einsicht und Vernunft zu einem glasklaren Verstand. Die Symbolik des Glases (2) bedeutet, dass all unsere Vorstellungen gereinigt werden sollen von der Trübheit unserer falschen Einbildungskraft, damit wahrhafte Reflexion möglich wird. Durch den Seh-Sinn gelangen wir zu Einsicht und Verstehen.  Der dritte Sinn ist der „Tastsinn“ (das Fühlen). Durch ihn entstehen Ideen und Bedeutungen. Die Gedanken und Bedeutungen führen langsam in einen Prozess hinein, in dem Denken und Wollen in der Meditation verschmelzen und die Erinnerung an das Ur-Licht (3) im Herzen sichtbar wird.  Als Viertes erhebt sich das Denken durch Kontemplation in höhere Bewusstseinsebenen. Es folgt dem höheren „Geruchssinn“. Eine innere Achse bildet sich heran, die sich wie ein Baum weder nach Osten noch nach Westen, sondern aus dem „Süden“ (der Materie) hoch hinauf in den „Norden“ (das Geist-Element Luft) erhebt. Diese Achse stellt die Logik der Seele dar, das stufenweise Hineinwachsen in immer höhere Bewusstseinsebenen (den Lebensbaum). Der Baum (4) symbolisiert auch unsere Wirbelsäule, die als Krone den Kopf hat und an der sich die sieben feinstofflichen Zentren (die Chakren) befinden.  Fünftens entsteht in der fünften Kammer des Herzens durch aktive Imagination das Öl (5) oder die Essenz unseres allwahrnehmenden Sinnes. Dieser Sinn ist unser „Geschmackssinn“, durch den wir alle anderen Sinne erfahren (schmecken) können. Entzündet sich diese Essenz durch den Prozess der aktiven Imagination, dann leuchtet unser Herz wie ein funkelnder Stern. Das bedeutet, dass wir das Feuer der Leidenschaften durch das Entzünden des reinen Lichtes im Herzen umgewandelt haben. Wir haben die Hitze der Leidenschaften überwunden. Durch die Liebe des Herzens leuchtet unserer allwahrnehmender Sinn fast ohne Feuer, ohne die Hitze der Leidenschaft. Das kühle Licht kann sich in unserem ganzen Organismus ausbreiten, ohne uns zu verbrennen, und der ganze Mensch leuchtet wie eine ewige Lampe, die nie erlischt.  Wer bin ich? Doch bevor wir uns fragen können, was Erleuchtung ist, müssen wir uns erst einmal die Frage vorlegen: „Wie ist der Weg, der zur Erleuchtung führt?" und: „Wer bin ich wirklich?“ Die Sufis sagen: „Solange der innere Mensch schläft, sind wir Narren und menschliche Vernunft ist nichts weiter als Narrheit." Der äußere Mensch, der sich gewöhnlich für ein Ganzes hält, setzt sich aus den vielen äußeren Einflüssen, Stimmungen und Eindrücken zusammen, die er durch die Erziehung und die Gesellschaft erhält. Unsere Persönlichkeit gleicht einer Maske, die wir normalerweise für unser wahres Ich halten, da wir uns mit ihr zu sehr identifiziert haben. Sie ist der äußere Mensch, unser Ego, unser niederes Ich. Unter der Maske der Persönlichkeit verbirgt sich unser wahres Wesen, das wir am besten erfahren, wenn wir ganz tief in unser eigenes Herz gehen. Dort spüren wir, wer wir wirklich sind und was unseren wahren Charakter ausmacht. Diesen Herzenskern nennen die Sufis Fuat. In ihm befindet sich die Kammer mit dem göttlichen Lichtfunken. Die beiden, der Kern und der Funke, bilden unser wahres, unser höheres Selbst. „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn", sagte der Prophet Mohammed – Allahs Friede und Segen seien auf ihm. Damit sich das höhere Selbst entwickeln kann, benötigen wir einen Zugang zur göttlichen Ebene jenseits von Raum und Zeit. Es gilt, einen Sinn für das Ewige, das Absolute zu entwickeln, einen Ewigkeitssinn. Ein besonderes Organ des Bewusstseins kann entstehen: das dritte Auge. Es entfaltet sich aus der Zirbeldrüse, die sich zwischen den beiden Augen in der Mitte unserer Stirn befindet. Indem sich Körperseele und Geistseele vereinen, wird dieses Organ erweckt. Von oben kommt das göttliche Licht durch den Scheitel unseres Kopfes, und von unten, aus dem Herzen, kommt das Licht unserer Seele, um sich mit dem göttlichen Licht zu vereinen.  Die Rosenkreuzer nennen dieses Organ das Brautgemach.   Der Lichtmensch Ist das dritte Auge durch Meditation und eine starke Verbindung zum Herzen geweckt, erwacht der innere Mensch. Die völlige Erleuchtung besteht immer in der unbeschreiblichen persönlichen Erfahrung eines holistischen Universums, in dem jeder einzelne Punkt das Ganze umfasst. Jeder Mensch hat einen göttlichen Funken in seinem Herzen. Nur das spirituelle Herz, das eigentliche Erkenntnisorgan, ist das Instrument intuitiven Wissens und ist in der Lage, das Unendliche, das Göttliche zu begreifen.  1221 schrieb der Sufi Najmoddin Kobra: „Wenn der Kreis des Gesichtes rein geworden ist, gibt er Licht ab, wie eine Quelle ihr verströmendes Wasser, sodass der Mystiker, durch sein Bewusstsein der Dinge jenseits der Sinne, das Gefühl hat, von seinem Gesicht strahlten Lichtblitze aus. Dieses Blitzen erscheint zwischen den beiden Augen und Augenbrauen. Es breitet sich aus, bis es das ganze Gesicht umfasst. Wenn das geschieht, dann erscheint vor dir, von Angesicht zu Angesicht, ein anderes Gesicht, ebenfalls aus Licht. Es strahlt gleichfalls Licht aus, während hinter seinem durchsichtigen Schleier eine Sonne sichtbar wird, von Schwingungen belebt. In Wirklichkeit ist dieses Gesicht dein Gesicht und die Sonne ist die Sonne des Geistes, der in deinem Körper ein- und ausgeht.  Später umfängt Reinheit deine ganze Person und du stellst fest, dass du vor dir eine Lichtgestalt erblickst, von der ebenfalls Licht ausstrahlt. Der Mystiker bemerkt, wie dieses Licht von seinem ganzen Körper ausgeht. Oft fällt dann der Schleier und enthüllt die ganze Wirklichkeit. In diesem Augenblick bist du in der Lage, mit deinem ganzen Körper wahrzunehmen, das heißt, du sprichst, siehst, fühlst mit all deinen Organen, nicht nur mit den äußeren Augen und Ohren.“  Die Eröffnung der inneren Vision, das visionäre Lichtorgan, beginnt bei den Augen, weitet sich auf das Gesicht aus, gefolgt von der Brust und schließlich dem ganzen Leib. Diese Lichtperson, der Lichtmensch in dir und vor dir, heißt bei den Sufis Chidr, der „grüne Georg“; er ist der innere Seelenführer aller Seelen, den man an seiner grünen Aura erkennen kann. Dann sehen wir die geistige Welt mit dem inneren Auge und dem inneren Licht, das in der Zirbeldrüse gebildet wurde.  Auch im Traum sehen wir Lichter und Farben, obwohl wir uns in der Nacht in völliger Dunkelheit befinden. Das heißt, das Licht und die Farben, die wir im Traum wahrnehmen, werden in der Zirbeldrüse erzeugt. Je älter der Mensch wird, desto mehr schließt sich das dritte Auge und unsere Zirbeldrüse verkümmert.  Notwendigkeiten auf dem Weg  Durch innere und äußere Gifte seelischer, geistiger und materieller Art, die sich im Laufe des Lebens beim Menschen ansammeln, verschwinden seine Möglichkeiten der höheren Wahrnehmung. Zu den Giften in diesem Sinne gehören unreine, verschmutzte Nahrungsmittel, die durch Monokulturen und Genmanipulationen ihre stärkenden und gesundheitsfördernden Eigenschaften verloren haben; ferner zu viel Fleischgenuss, Drogen, Narkotika jeder Art und Massenmedienkonsum. Auf der emotional-seelischen Ebene entstehen Verzerrungen und Verunreinigungen durch zu viel Ärger, Angst und Depression. Daher ist das Gebot der Reinheit auf allen spirituellen Wegen grundlegend. Je mehr der Mensch nach innerer und äußerer Vollkommenheit strebt, desto mehr können sich die inneren und äußeren Organe entwickeln. Solange wir diese Vollkommenheit nicht erreicht haben, schläft der innere Mensch und der äußere Mensch ist wie ein Automat, der keinen wirklichen Willen hat. Wie ein Blatt im Wind wird er hin und her geworfen und durch die äußere Vernunft begrenzt. Auf das Äußere fixiert, verharrt er in geistig-seelischer Blindheit. Er glaubt nur an die Dinge, die er mit seinen fünf Sinnen wahrnehmen kann, die geistige Welt bleibt ihm verschlossen.  Goethe sagt im Faust: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen.“ Und: „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; dein Herz ist tot, dein Sinn ist zu." Wir können nicht wissen, wer wir sind, solange wir nicht geschmeckt und empfunden haben, was es bedeutet, wirklich zu verstehen. Wirkliches Verstehen ist nur durch das mitfühlende Herz, durch Empathie und Barmherzigkeit möglich. Die Haupteigenschaft unseres inneren Herzens ist Liebe und Barmherzigkeit. Ohne sie sind wir wie Blinde, die nach dem Licht der Sonne suchen und die behaupten, die Sonne und das Licht würden nicht existieren.  Hierzu eine Geschichte: Ein Wanderderwisch kam eines Tages in eine kleine Stadt und fragte die Bewohner: „Wer bin, woher komme ich und wohin gehe ich?" Die Bewohner der Stadt antworteten ganz verstört: „Woher sollen wir das denn wissen?“, und vertrieben den armen Derwisch mit Schimpf und Schande aus ihrer Stadt.1 Und genau das ist der Zustand der Menschheit. Die drei Kardinalfragen des Menschseins können nur auf dem inneren Weg eine Antwort finden. Nur durch den inneren Menschen und die Entwicklung der inneren Organe erreichen wir unsere wirkliche Bestimmung. Sie besteht darin, dass wir unser Leben zu Licht werden lassen, indem wir uns von unserer Schattenpersönlichkeit zu einer geistigen Sonne entwickeln. Das Leben aus dem eigenen Zentrum erzeugt im Körper Licht und Wärme. Erst wenn wir unsere eigene Mitte gefunden haben, kann der innere Mensch erwachen. Er gibt dem äußeren Menschen Ruhe, Gelassenheit und Zentriertheit. Denn er lebt aus dem Herzen, aus der Mitte heraus. Die Zentriertheit im eigenen Herzen erzeugt eine Suche nach dem Zentrum und der Mitte allen Seins, das heißt nach Gott, der wie eine Sonne ist und die ganze Schöpfung mit seiner All-Liebe erleuchtet. Die Suche nach diesem all-erlösenden Zentrum ist das Ziel aller spirituellen Bemühungen. Nur wer sucht, wird auch Antworten finden. Das Mit-sich-selber-Ringen, um den inneren Menschen zu erlösen, ist die Suche nach Vollkommenheit. Der äußere Mensch muss sterben, damit der innere Mensch geboren werden kann. Das äußere Leben muss zurücktreten, damit das Innere sichtbar wird. So sagt Jesus: „Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden." Jesus steht für den Menschen, der die Vollkommenheit aller menschlichen Aspekte in sich verkörpert. Das Christusbewusstsein führt uns zum ewigen Leben.  Die Sufis sagen, dass Jesus nicht an einem Kreuz aus Holz starb, sondern am Kreuz aus Licht. Es entsteht, wenn die inneren Organe geboren werden. Sie werden im Sufismus als Lataif – feinstoffliche Zentren – bezeichnet. An diesem Kreuz aus Licht ist der äußere Mensch Jesus gestorben und der innere Mensch, Christus, auferstanden.  Daher verinnerlichen die Sufis das Kreuz aus Licht – wie die Rosenkreuzer das Rosenkreuz – als ein Symbol für den vollkommenen Menschen, der in sich selbst alle Aspekte des Menschseins versöhnt und ausgeglichen hat. „Denn wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt", sagt Jacob Böhme, ein christlicher Mystiker.  Dieses Sterben ist eine Überwindung des äußeren Menschen. Sein „Tod“ bedeutet Transformation. Tod und Auferstehung sind das zentrale Mysterium im Christentum und im Sufitum. Indem wir der äußeren Welt nach sterben, kann eine neue, innere Welt geboren werden.   Das Ganze erkennen Jesus sagt: „Mein Königreich ist nicht von dieser Welt." Damit meint er, dass die innere Welt die Ursache dafür ist, dass wir in der äußeren Welt existieren können. Denn ohne das innere Licht würde nichts in der äußeren Existenz in Erscheinung treten können. Der Träger dieses inneren Lichtes ist der vollkommene Mensch. Hierzu das Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten:  Es gab ein Dorf, in dem nur blinde Menschen lebten. Eines Tages kam ein Elefant in dieses Dorf und die blinden Bewohner umringten das seltsame Tier und wollten herausfinden, wer oder was ihr Dorf betreten hatte. Einer der Blinden fasste den Rüssel des seltsamen Tieres an und sagte: „Dieses Tier ist wie ein merkwürdiger langer Wasserschlauch“. Ein anderer Blinder betastete das Ohr des Elefanten und sagte: „Dieses Tier muss wie ein großes Palmenblatt sein." Ein dritter Blinder, der das Bein des Elefanten umfasste, sagte: „Dieses Tier ist wie eine große starke Säule." Der vierte Blinde, der den Schwanz des Elefanten ergriffen hatte, sagte: „Nein, dieses Tier ist wie eine Peitsche." Und so stritten sich die Blinden, denn jeder hatte nur einen Teil des Elefanten ergriffen. Das ganze Tier blieb ihnen verborgen.1 Der äußere Mensch ist nur ein Aspekt des vollkommenen, ganzen, inneren Menschen.   Solange wir nicht die ganze Wirklichkeit erkennen und der innere Mensch noch nicht auferstanden ist, sind wir wie die Blinden, die herausfinden wollen, wer oder was der Elefant ist. Solange du nicht wirklich alles weißt, sagen die Sufis, weißt du in Wirklichkeit nichts. So wurde uns Menschen von der Frühzeit an gesagt, dass wir schlafen.  Die, die das zur Menschheit sagten, waren die 124.000 Propheten und Gesandten, die seit Adam zur schlafenden Menschheit geschickt worden sind, um sie zum inneren Menschen zu erwecken. Der Prophet Mohammed – Friede und Segen seien auf ihm – sagt: „Wahrlich, wenn wir sterben, wird dies erkannt werden. Alles was du gehört hast, war nur ein Märchen und was du gesehen hast, war nur ein Traum.“ Das ganze Leben ist nur ein Traum. Um aus ihm aufzuwachen, müssen wir erkennen, dass wir uns in einer Art Traum- oder Schlafzustand befinden. Leider ist es sehr schwer, aus diesem Traum, den wir Realität nennen, aufzuwachen. Der Elefant ist ein Symbol für die ganze Wahrheit. Das Ganze – Gott – kann nur von Gott selber, der das Ganze ist und alle Aspekte in sich einschließt, erkannt werden. Es kann sich nur selbst erkennen. Die Sufis sagen: Der Erkennende – Gott – erkennt sich durch den Erkannten – den inneren Menschen. Gott und Mensch sind in Wirklichkeit von gleicher Art.  Ebenso heißt es in der Bibel: „Ich habe wohl gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten." (82. Psalm)  Gott und Mensch sind nicht voneinander zu trennen. Wir sind alle Söhne und Töchter Gottes. Al-Haladsch sagt: „Ich bin die göttliche Wahrheit." Damit spricht er das Geheimnis des wahren inneren Menschen aus. Vielleicht haben wir nur ein wenig von der Wirklichkeit und Schönheit Gottes in uns selbst erfahren können. Die Tragik des äußeren Menschen ist, dass er nichts für sich selbst oder andere tun kann, solange der innere Mensch schläft. Denn der äußere Mensch für sich gesehen existiert in Wirklichkeit gar nicht, er hat kein wahres Sein.  Nur wenn der äußere Mensch bewusst an sich selber arbeitet, wenn er bereit ist, sich für den inneren Menschen aufzuopfern und am Kreuz aus Licht zu sterben, wird „er“ als innerer vollkommener Mensch auferstehen.  Alle 124.000 Propheten verkündeten eine göttliche Disziplin, die sich je nach Zeit und Umständen wandelte, aber dennoch stets den Menschen zu einer Anstrengung und Arbeit an sich selbst anregte.  Nur durch eine spirituelle Arbeit erlangen wir unseren wahren freien Willen. Vorher sind wir wie Getriebene, die keine Wahl haben, da wir den wahren Willen noch gar nicht entwickelt haben. Die bewusste Arbeit an uns selbst setzt voraus, dass wir wenigstens teilweise erkannt haben, wer wir sind. Das Geheimnis, das es zu lösen gilt, bezieht sich auf das wahre Ich. Wer bin Ich? Wer ist dieses Ich? Was denkt und handelt? „Es gibt ein Ich, das bin nicht ich, doch dieses Ich ist in Wirklichkeit Ich", sagt Yunus Emre, ein Sufi. Ich als irdischer Mensch bin noch nicht Ich. Es gibt ein Ich, das in mir ist, und dieses Ich ist in Wirklichkeit mein höheres Selbst. Die diesen Weg zu sich selbst gegangen sind, werden Erleuchtete genannt.  Neue Organe des Bewusstseins So ging einst der weise Diogenes, ein griechischer Philosoph, mit einer Fackel in der Hand am hellen Tage durch die Straßen von Athen und rief: „Nur schlafende Geister, wohin ich schaue. Ich sehe keinen einzigen wachen Menschen." Da wurde er von den ihn umstehenden Athenern gefragt: „Warum trägst du am hellen Tage eine Fackel durch unsere Stadt?" Der weise Mann antwortete ihnen: „Euer Tag ist meine Nacht." Der äußere Mensch, der nur seinen äußeren Sinnen vertraut, ist blind gegenüber dem inneren Menschen. Dieser schläft und muss geweckt werden, indem wir einen 6. Sinn entwickeln, der das Ganze erfassen kann. Wir können ihn als „Gewissen“ bezeichnen. Durch ihn lernen wir Dinge zu sehen, die wir verdrängt haben und die im Unbewussten liegen. Durch das freiwillige Selbstopfer, den Liebestod, den Tod im Leben, erreichen wir die höhere Wahrnehmung und die Verfeinerung der Sinne.  Durch die Erweckung der feinstofflichen Zentren bilden sich Organe des Bewusstseins, aus denen der innere Mensch entsteht. Diese subtilen Organe bilden sich in der Brust des menschlichen Körpers und lassen ein Kreuz aus Licht, ein Elemente-Kreuz, entstehen. Sie sind die Tore zum Übersinnlichen und können erweckt werden durch Visualisierungsübungen der Farben und der fünf Elemente. Der innere Mensch bildet sich als unser neuer Ätherkörper. Er besitzt eine starke Aura, die besonders bei spirituell Fortgeschrittenen und Heiligen physisch sichtbar werden kann (man denke an den „Heiligenschein“). Die Aura bildet sich um den physischen Körper und kann mit feinen Messgeräten gemessen und nachgewiesen werden („Kirlian-Fotografie“).  Die feinstofflichen Zentren oder Lataifs, die sich über unserer Brust befinden, können den Elementen und den fünf Sinnen zugeordnet werden. Das Hören entspricht der Erde und der Farbe Gelb. Im Raum des Herzens findet es in der äußersten Kammer statt, die Qualb genannt wird. Hier entfaltet sich die Seele zu einem aktiven Prinzip, das durch die Liebe und die Sehnsucht entfacht wird, die Sehnsucht, zu Gott zurückzukehren. Diese erste Kammer wird geöffnet durch die Überwindung des Egos und die Vereinigung mit dem höheren (wahren) Selbst, dem Lichtmenschen. Das Feuer der Liebe und der Sehnsucht brennt vieles aus. Dadurch können Gefühle von Unzufriedenheit und Missstimmung entstehen. In unserem Herzen gibt es jedoch eine tiefe Erinnerung an das Zusammensein mit Gott, an das Urmysterium.  Als Gott die Seelen erschaffen hat, haben sie mit Ihm einen Urvertrag geschlossen, in dem sie die ewige Einheit und Existenz Gottes bezeugt haben. Dieser Urvertrag besiegelt die Einheit aller Seelen mit Gott. Indem wir uns an diesen Urvertrag erinnern, wächst unsere Einsamkeit in dieser Welt und wir erinnern uns unseres ursprünglichen Bedürfnisses nach Liebe und Hingabe. Liebe und Sehnsucht brennen im Herzen und reinigen es von allen Begierden der niederen Triebseele. Wir stillen unsere Sehnsucht im Feuer der Liebe. „Ohne Leidenschaft wird nichts vollbracht", sagt der Weise. Unsere Dunkelheit brennt aus und es öffnet sich die erste Kammer im Herzen. In ihr entwickelt sich die Seele weiter, um zu immer höheren Bewusstseinsebenen aufzusteigen.  Die zweite Kammer des Herzens, die man das Sirr-Geheimnis nennt, steht für das Sehen und das Element Wasser und hat die Farbe Rot. Im Gegensatz zur ersten Herzkammer mit den aktiven Eigenschaften der Liebe und Hingabe befinden sich in der zweiten Kammer die passiven Eigenschaften der Ruhe, der Stille und der Geduld. Wir bekommen Zugang zum Licht des Friedens. Das tiefe Rot überträgt uns die Ruhe, Stille und Geduld. Wir wollen etwas von der Wahrheit Gottes erfahren. Das Licht des Geistes Gottes widerspiegelt sich in der Farbe Rot in unserem Herzen. Unser Selbst ist Teil der göttlichen Natur. Zuerst müssen wir Schmerzen und Läuterungen erleiden und Geduld lernen. Sonst würde dieses Licht durch unsere Dunkelheit und unsere Begierden verschmutzt. In der zweiten Kammer beginnt die Geburt des Göttlichen, in vollkommener Ruhe und Stille. Wir haben das göttliche Licht gefunden, den Geist in uns. Unsere Seele ist zur Reue und Umkehr bereit. Der Koran spricht von der „sich selbst anklagenden Seele“. Der Geist bereitet uns zu für die dritte Kammer des Herzens, das Geheimnis der Geheimnisse. Sie wird dem Element Feuer, der weißen Farbe und dem Empfinden, dem Tastsinn, zugeordnet und Sirr-as-Sirr genannt. Das Geheimnis der Schöpfung, das Geheimnis der Liebe offenbart sich in ihr. Die Dualität von Liebendem und Geliebtem löst sich auf. Wir befinden uns in der vollständigen Einheit mit Gott. Schatten und Dunkelheit sind nicht mehr vorhanden, daher die weiße Farbe. Sie steht für die Auslöschung unseres Egos. Die Seele ist erfüllt mit dem Erkennen der Einheit Gottes und erreicht tiefstes Vertrauen in Seinen Willen. Das Herz des Liebenden wird zum Ort der Offenbarungen des göttlichen Geliebten. Im Einswerden des Liebenden mit dem Geliebten, mit Gott, besteht die Bedeutung des feinstofflichen Zentrums der dritten Herzkammer, Sirr-as-Sirr. Wir werden fähig, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind.  Die höchste Wahrheit ist weder Sein noch Nichtsein, sondern die Synthese von beiden. Sie erscheint in der Farbe Grün, der Farbe der vierten Herzkammer, Khafa genannt. Grün setzt sich zusammen aus den Farben Gelb und Blau. Gelb steht für Sein, Blau für Nichtsein. Daher symbolisiert Grün die absolute Wahrheit. Die Farbe wird dem Geruchssinn und dem Element Luft zugeordnet, weil Luft die Elemente Feuer und Wasser voneinander trennt, um sie vor gegenseitiger Auslöschung zu bewahren. Was lässt sich über die höchste Wahrheit sagen? Sie leuchtet im Innersten von allem und ist in allen anderen Farben enthalten. Wir nehmen Grün als die Farbe wahr, die in allen Dingen durchschimmert. Wenn wir in die astrale Welt eintreten, haben wir das Gefühl, dass wir ein grünes Land betreten. Sie ist die Ur-Wirklichkeit, das Jenseits aller Vorstellungskraft und beschreibt den Übergang vom Sein zum Nichtsein. Wir erlangen wahre Aufrichtigkeit, da wir weder am Sein noch am Nichtsein festhalten.  In der Mitte des Elemente-Kreuzes befindet sich die Farbe Schwarz, die dem Element Äther und dem Geschmackssinn zugeordnet ist. Das Geheimnis der Farbe Schwarz ist die völlige Verneinung, die Negation des Ich-Selbst. Hier hört sogar alle Bewusstheit auf. Verloren in der inneren Leere des Herzens, beginnt ein schmerzvoller Prozess des Sterbens. Das Tor zu diesem Geheimnis des Herzens, der fünften Kammer – Akhfa, ist der Liebestod, das Sterben vor dem Sterben. Im Ur-Nichts und der Nichtexistenz verliert sich alles. Alle Identität wird verbrannt. Im Kreis der Liebe gibt es nur noch Einen – Gott, der die Liebe bezeugen kann. Alles andere wird ausgelöscht. Vollkommene Gewissheit stellt sich ein. In der fünften Herzkammer befindet sich der göttliche Funke. Aus ihm strahlt die Christusflamme, das ewige Licht.  In jeden Menschen befindet sich das Ebenbild des Schöpfers, das durch den göttlichen Funken hervorgerufen wird. Der Funke gleicht einem Samen. Er muss sterben, wie Jesus am Kreuz, damit das göttliche Muster, der Lichtmensch, auferstehen kann. Er gestaltet sich aus dem in Gott enthaltenem Urbild. Wir alle tragen die Kraft des Schöpfers durch den göttlichen Funken in uns. Er besteht aus Licht und Liebesenergie, der Vereinigung von männlicher und weiblicher Kraft. Die Bibel beschreibt die fünfte Herzkammer als das stille Kämmerlein, das man täglich aufsuchen soll. Jesus wird hier zum Christus. Ohne Unterlass glüht, leuchtet und lodert der Same Gottes, der ewig in uns wohnt. Er wird hervorgerufen durch den Gotteshauch. Hier ist der Ort, an dem sich die Geistseele, jüdisch Neshamah, bildet. Wenn sich diese besondere Seele in unserem Herzen verwirklicht, wird der winzige Raum so groß wie das gesamte Universum. Es ist wichtig, dass wir uns täglich eine Auszeit gönnen und uns dem wahren Wesen, dem göttlichen Funken in uns, zuwenden. Indem wir ihm Raum geben, wächst er und erzeugt Liebe, Frieden und Harmonie.  Das Herz mit seiner fünften Kammer wird durch den Atem und den Herzschlag, durch Lauschen auf das Herz und den Atem, angefacht. Eine Lichtaufladung des Herzens entsteht und Liebe, Friede und Harmonie breiten sich aus. Hierzu eine kleine Übung: Schließen Sie Ihre Augen und entspannen Sie sich. Atmen Sie ein paar Mal tief ein und aus. Legen Sie Ihre Hände auf das Herz und gehen Sie in Ihrer Vorstellung in den Kontakt mit der fünften Herzkammer. Fühlen Sie das ewige Licht, das in Ihnen leuchtet, funkelt und strahlt. Atmen Sie ein, fühlen und visualisieren Sie, wie diese Flamme in Ihnen immer größer wird, wie sie wächst, bis Ihr ganzer Körper mit ihr angefüllt wird. Durch diese Übung wird die Substanz belebt, aus der der Lichtmensch hervorgehen kann. Er kann sich mit dem Heiligen Geist, der durch das Kronenchakra in uns hineingezogen wird, vereinigen. Diesen Vorgang nennen die Rosenkreuzer die „Chymische Hochzeit" und die Sufis Fanah, das völlige Ausgelöscht-Sein allen Seins.  Der Ausgleich der Elemente durch die fünf Herzkammern ist die Essenz aller wahren spirituellen Lehren. Wenn die Elemente ausgeglichen sind, können wir durch das fünfte Element in die Einheit Gottes, in die Einheit allen Seins zurückkehren.  Die Dimensionen des Herzens entfalten sich durch Atemübungen, Licht- und Farbmeditationen. Die 5-Elemente-Übungen verleihen dem Herzen Stabilität und verhelfen ihm zu mehr Ausdrucksfähigkeit. Damit lassen wir die Weisheit des Herzens hervortreten. Wird das Element Erde im Herzen gestärkt, vergrößern sich unser persönlicher Einfluss, unsere Integrität und unsere Fähigkeit zu mehr Toleranz. Das Element Wasser steht für Kreativität, Großzügigkeit und Liebe, das Element Feuer für Idealismus, Mut, Ausstrahlung und Optimismus. Für Idealismus, Optimismus und Wachstumsfähigkeit steht das Element Luft. Und das Element Äther ist Träger der Barmherzigkeit, des Mitgefühls und der All-Liebe.  Bevor wir fragen können, wer der Mensch ist, müssen wir fragen: Was ist der Mensch? Aus welchen Elementen besteht er und welche befinden sich bei ihm im Ungleichgewicht? Ein Choleriker hat zuviel Feuer und braucht zum Ausgleich mehr Wasser. Das Wasserelement muss in ihm gestärkt werden. Der Phlegmatiker hat zuviel Erde und benötigt das Luftelement zum Ausgleich. Der Sanguiniker hat zuviel Luft und braucht das Element Erde. Der Melancholiker schließlich besitzt zuviel Wasser und benötigt das Feuer-Element.  Sind alle vier Elemente vollkommen ausgeglichen, so erreichen wir unseren Äther- bzw. Lichtkörper und finden Zugang zu unserem inneren Lichtmenschen. Die Arbeit an den fünf Elementen bedeutet zugleich, unseren Charakter und unsere fünf Sinne zu verfeinern.  Wir schreiten vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. Friedrich Rückert schreibt über den persischen Dichter Hafis: „Hafis, wo er scheinet Übersinnliches nur zu reden, redet über Sinnliches;  Oder redet er, wo über Sinnliches er zu reden scheint, nur Übersinnliches.  Sein Geheimnis ist unübersinnlich, denn sein Sinnliches ist übersinnlich.“  Das Erringen von Weisheit Die Sinne sind ein Geschenk Gottes, sie zu kultivieren und zu verfeinern, ist der Weg des Herzens. Die Sinne entfalten eine tiefe, reine Kraft, wenn wir den Liebestod am Kreuz aus Licht gestorben sind. Unerwartete Freude wird uns durch sie zuteil. In allen himmlischen Religionen, im Judentum, Christentum und Islam, wird gesagt, dass die Gottesfurcht die Mutter aller Weisheit ist. Diese Gottesfurcht ist in Wirklichkeit die Ehrfurcht und der Respekt vor allen lebenden Wesen. Sie tragen göttliches Seelen-Licht in sich.  Die Erfahrung des eigenen Todes ist der Weg, der zur Vollkommenheit führt. Die Todesangst erweist sich als ein Motor, der uns auf dem inneren Weg hilft, uns selbst ganz zu erkennen. Die Angst wandelt sich zur  Gottesfurcht; sie ist die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Diese Frucht symbolisiert die Angst vor dem Unbekannten. Und ihre Überwindung bedeutet die Mutter aller Weisheit. Wirklich innere Freiheit erlangen wir, wenn wir uns unseren eigenen Ängsten gestellt und vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen haben. Dazu brauchen wir die innere Vernunft, die Intelligenz des Herzens.  Wir erlangen sie, wenn wir immer wieder für einen Augenblick innehalten, alle Gedanken und Wünsche ausschalten und uns nur noch auf unseren Atem und das Pochen des Herzens konzentrieren. Die innere Vernunft ist das Himmelslicht, welches unser Herz wie eine Lampe entzündet und erleuchtet. Wir stärken das innere Licht durch Visualisierungs-, Meditations- und Atemübungen – und durch Zikir, die Besinnung auf die göttlichen Namen und Eigenschaften. Wenn wir das Rauschen des Blutes in unseren Adern hören, erhaschen wir einen Hauch vom Odem Gottes. Indem wir immer stiller werden, lassen wir die Dinge so, wie sie sind. Wir ziehen unsere Gedanken nach innen und erlauben ihnen nicht mehr, immer weiter umherzuschweifen.  Nun erfahren wir uns selbst und sehen die Dinge nicht mehr im Lichte unserer bisherigen äußeren Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen. Das Licht der höheren Vernunft erleuchtet die Lampe unseres Herzens. Mit ihrer Hilfe können wir die Innenwelt des Unbewussten und die äußere Welt des Bewusstseins sehen und wahrnehmen. Wir sehen und erfahren das Reich Gottes durch die stille Flamme in unserem Herzen. „Gott ist Stille und kann nur in der Stille erfahren werden", sagt Bahauddin An-Nasquibandi, ein Sufi Heiliger. Wenn es uns gelingt, innezuhalten und anzuhalten, kann eine neue Sicht auf unser Leben und uns selbst entstehen und unseren Horizont weiten. Orte der Ruhe und Stille sind notwendig. Ein wirkliches Gebet kann nur im Zustand des Friedens und der Stille erhört werden. „Der äußere Mensch hat keine Möglichkeit, sich wirklich zu verändern, außer er kennt das richtige Gebet", sagt der Mystiker Ibn’Arabi. Das richtige Beten ist nur mit ganzem Herzen und all unserer Willenskraft möglich. Eine Sufiweisheit lautet: „Suche das Ganze, lebe das Ganze, sei das Ganze, dann ist dein Leben und all dein tägliches Tun ein ständiges Gebet, eine ständige Anwesenheit Gottes.". „Denn richtig zu beten, ist so zu beten, als ob du Gott siehst, auch wenn du weißt, dass du Gott nicht sehen kannst. So sei dir gewiss, dass Gott dich sieht", sagt der heilige Prophet Mohammed – Friede und Segen seien auf ihm. Diese Glaubensgewissheit können wir nur erreichen, indem wir uns immer wieder fragen: Was will Gott jetzt von uns? Wo befindet Er sich jetzt? Was macht Gott jetzt gerade? Ist Er auf den Straßen, auf den Plätzen, fern im Himmel thronend, weit ab von dem Geschrei der Menge? Finden wir Ihn in den Palästen, in den Schlössern, den Gärten, den Wüsten oder in zerbrochenen Herzen der Menschen?  Nur ein Mensch mit einem gebrochenen Herzen ist bereit, den Liebestod zu empfangen, ist zum Sterben vor dem Sterben bereit.  Verlass die inneren und äußeren Welten, sonst wirst du nie ganz selbstgenügsam werden. „Werde ein Hauch im Sein Gottes. Gehorsam allein ist nicht der Weg, der zu Ihm führt. Den Gehorsam abzulehnen, ist aber ganz und gar falsch. Gehorche also und dir wird ein ganzes Königreich zuteil", sagt Fariduddin Attar in seinem Buch Vogelgespräche.  Das Leben leben Nur wer das Unmögliche will, kann das Absolute erreichen. Indem wir uns dieser Aufgabe stellen, indem wir Vollkommenheit auch in den banalen Dingen des Alltags anstreben, gelangen wir zum Gehorsam unter dem Willen Gottes – der nichts anderes ist, als unser eigener freier Wille. Das höchste Gut, welches der Mensch, der erwacht und erleuchtet ist, erhalten kann, ist der freie Wille. Nur durch den freien Willen erreichen wir Vollkommenheit und werden sein wie Gott. Der Weg dorthin besteht nicht darin, immer nur gehorsam zu sein. Denn dann hätten wir keinen freien Willen. Die Fehler und Unvollkommenheiten sind notwendig, um Vollkommenheit zu erreichen. Wahre Vollkommenheit beinhaltet sowohl alles Vollkommene wie auch alles Unvollkommene: Licht und Dunkelheit, Sterblichkeit und Unsterblichkeit. „O du unsterblich Sterblicher, du unvollkommener Vollkommener, deine Unvollkommenheit und dein Unvermögen sind Vollkommenheit in den Augen Gottes", lautet ein Ausspruch der Sufis. Was zählt, ist die Absicht, die sich in der Tat verwirklicht. Ein Baum ohne Früchte ist nutzlos. Ein Leben ohne gute und schlechte Taten ist ein verschwendetes Leben. Was uns reifen lässt, sind unsere guten und schlechten Taten. Eine reine Absicht erlangen wir, indem sich die Tür des Herzens von innen öffnet, nicht von außen. Eigenwillen und Eigennutz verhindern die Öffnung. Die Tür öffnet sich ohne unser Zutun, durch Geduld und Warten, der Eigenwille muss zum Schweigen gebracht, die unruhigen Erwartungen müssen erloschen sein. Der Derwisch, der bei allen Dingen des Lebens geduldig wartet, ist am Ende gereift und erleuchtet. Seit Ewigkeiten wird uns Menschen entgegengerufen, dass es auf Geduld und Nichtbegehren ankommt. Und dennoch: Der faustische Mensch steht da als begehrender Mensch, er kann nicht anders. Der Mensch der Tat will Grenzen und Hindernisse überwinden. „Und alle Näh und alle Ferne / befriedigt nicht die tiefbewegte Brust“, heißt es im Faust. Martin Luther sagt: „Sündige tapfer, aber tapferer glaube."  Und Jesus spricht die Worte: „Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ (Lukas 15, 7) Auch eine schlechte Erfahrung ist eine Erfahrung und bringt uns letztendlich einen Schritt weiter. Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Leben. Nur wer das Leben ganz gelebt hat, kann als wirklicher Weiser gelten und Gnosis, göttliche Erkenntnis, empfangen. Um in den Himmel zu gelangen, müssen wir erst einmal durch unsere eigene Hölle gehen. Nur durch Dunkelheit kommen wir zum Licht.  Eine Spruchweisheit besagt: „Die Feindschaft eines Weisen ist besser als die Freundschaft mit einem Narren."   Notwendige Schmerzen Hierzu folgende Geschichte:  „Ein träger, unachtsamer Mann lag unter einem Baum und schlief mit offenem Mund. Dies sah eine Schlange. Sie erkannte ihre Möglichkeit, zu einem satten Mahl im Bauche des Mannes zu gelangen. Sie kroch in den offenen Mund und direkt in den Bauch, um sich von den Organen des Mannes zu nähren. Das sah ein Reiter, der zufällig auf einem Pferd vorbei ritt. Er holte er seine Peitsche und schlug den schlafenden Mann wach, sodass dieser völlig erschrocken aufsprang und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Doch der Reiter schlug unaufhörlich auf den Mann ein. Schließlich zwang er ihn, von den verfaulten, stinkenden Früchten des Baumes zu essen. Kein Bitten und kein Flehen nützten etwas. Immer weiter musste der Mann von den verfaulten Früchten essen. Schließlich erbrach er sich. Heraus kam, was in ihn hinein gekrochen war. Er sah die Schlange.  Nun wusste er, dass der unbarmherzige Reiter sein Lebensretter war, und er sprach: „Wenn du mir alles erklärt hättest, hätte ich alles freiwillig akzeptiert und wäre deinen Anordnungen gefolgt." Der Reiter antwortete ihm: „Wenn ich dir alles ruhig und sanft erklärt hätte, hättest du mir nicht geglaubt, oder du wärst durch die Angst, eine giftige Schlange verschluckt zu haben, erstarrt gewesen und unfähig, etwas Sinnvolles zu tun; oder du wärst einfach fort- und davongelaufen und hättest deinen Tod selber verursacht; oder du hättest dich einfach nur umgedreht und versucht, weiter zu schlafen, um alles Übel dieser Welt zu vergessen. Und dann wäre es zu spät gewesen.“ Indem er dies sagte, gab er seinem Pferd die Sporen und verschwand.2 Die Geschichte ist ein Gleichnis für das Schicksal der Menschheit. Diejenigen, die mit Weisheit ausgezeichnet sind, haben eine große Verantwortung. Wenn wir unsere geistigen Gifte wie Wut, Angst und Unwissenheit – für die die Schlange steht – nicht aus uns herausbringen, werden wir durch sie zugrunde gehen. Die vorgefassten Meinungen über uns selbst oder über andere verhindern jegliche Heilung. Es sind Vorurteile, die nur auf dem äußeren Verstand und der Sicht des äußeren Menschen beruhen, dem Ego. Sie lassen den inneren Menschen in uns verstummen. Was dem Ego ganz und gar nicht zusagt, ist der Prozess des Sterbens, des Verzichtes, der Armut und des Nichts-Seins, der Verzicht auf Berühmtheit, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die meisten Menschen denken, dass das, was sie brauchen, auch das ist, was sie mögen. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt, die Medizin ist oft bitter und die Heilung kommt nur dann, wenn wir das Bittere ebenso akzeptieren wie das Süße. „Wahrlich, mit dem Schweren kommt das Leichte. Wahrlich, mit dem Schweren kommt das Leichte", heißt es im heiligen Koran. (94:6, 7) Es ist der einzige Satz, der sich im Koran wiederholt. Gott wiederholt sich sonst nicht. Alles was er sagt, ist einzigartig und Ausdruck seiner Einzigartigkeit. Doch da der Mensch vergesslich ist, wiederholt er für ihn diesen Satz.  Der innere Weg ist nicht der Weg des geringsten Widerstandes, sondern ein Weg der Schwierigkeiten, Hindernisse und Entbehrungen, ein Weg der inneren Armut.  Auf den inneren Menschen hören „Selig sind, die geistig arm sind", sagt Jesus. Wir dürfen Besitz, Anerkennung und Macht haben. Aber wir dürfen nicht durch das Begehren äußerer Macht in Abhängigkeit davon geraten. Innere Freiheit und Unabhängigkeit erreichen wir nur über das Lauschen und den Gehorsam gegenüber der Stimme des inneren Menschen, er ist unser Gewissen, er wird zum Christusbewusstsein. Der äußere Verstand ist notwendig. Doch wir müssen ihn der höheren Vernunft unterstellen. Vernunft kommt von vernehmen, hören – und das heißt: gehorsam sein. Wir erreichen es durch die Stille und den Frieden in unserem Herzen.  Ein Abgrund von Vermessenheit und Ignoranz gegenüber dem Göttlichen hat die Menschheit in einen Zustand von Hoffnungslosigkeit und Teilnahmslosigkeit geführt. Die innere Stimme des Herzens wird durch das äußere Geschrei der Persönlichkeit übertönt. Ein Sufi hat nicht für einen einzigen Augenblick die Vorstellung, dass Gott Teil dieser unvollkommenen und begrenzten Welt sei. Aber er weiß, dass diese unvollkommene Welt auf geheimnisvolle Weise völlig in Gott aufgelöst ist. Hierzu folgende Geschichte: Eines Tages formte Jesus, der Sohn der Maria, als er noch ein Kind war, Vögel aus Ton. Er hauchte ihnen seinen heiligen Atem ein und erweckte sie zum Leben. Ein älterer Junge, der auf Jesus neidisch war, ging zu den Pharisäern, den Priestern, und erzählte, dass Jesus am Sabbat arbeite und Vögel aus Lehm herstelle. Die Priester kamen zu ihm, um ihn zu bestrafen. Sie fragten: „Wo sind die Vögel aus Lehm?" Daraufhin klatschte Jesus in die Hände und die Vögel flogen auf und davon.2  Der äußere Verstand gleicht den Pharisäern, die nur das äußere Gesetz kennen. Dem inneren Gesetz der Liebe gegenüber sind sie taub und blind. Jesus sagt: „Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Matth. 5, 17) Es kann notwendig werden, dem äußeren Gesetz gegenüber ungehorsam sein. Gott offenbart sich uns dabei als barmherziger und allvergebender Gott. Am Sabbat zu arbeiten, wie es Jesus tat, bedeutet, eine Arbeit mit reiner Liebe durchzuführen, die keine Begrenzungen durch Raum und Zeit kennt. Sie ist grenzenlos, ist über Raum und Zeit erhaben. Eine Arbeit ohne Liebe ist unvollkommen. Sie vermag den toten Vogel nicht lebendig zu machen. Jesus handelt mit einem Willen, der den Gesetzen der Liebe folgt. Unser werter Sufi-Lehrer Sheikh Nazim sagt: „Wenn ich euch etwas sage und euer Herz mit dem Gewissen, der Intuition, etwas anderes sagt, dann folgt dem Ruf eures Herzens und nicht mir!" Liebe, Glaube und Hoffnung sind nicht genug. Es muss noch eine vierte Kraft hinzukommen, damit das Fundament des Glaubens vollkommen ist. Es ist das Gewissen, die Intuition, das Christusbewusstsein. Auch wenn wir uns ganz dem Weg des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung hingeben, muss im entscheidenden Moment doch der höhere Verstand, die innere Einsicht mitwirken. Der wahre Weg, der Weg der Vollkommenheit, wird auf allen Ebenen gleichzeitig gegangen. Körper, Seele und Geist entwickeln sich harmonisch, wenn dies gleichzeitig auf allen Ebenen geschieht.  Eins werden mit dem Gesuchten  Geistige Schulung betrifft die Suche nach Wahrheit, nicht den Glauben an ein äußeres Dogma. Im Suchen ist das Ziel bereits enthalten. Die Sehnsucht nach der Liebe führt zur Erfüllung in der Liebe. Die Suche hört auf, wenn wir mit dem Gesuchten eins geworden sind. Das ist der Fall, wenn wir den inneren Menschen in uns geweckt und verwirklicht haben. Hierzu eine Geschichte: Die Nachtfalter fragten sich eines Tages, was es für ein Licht sei, das in der Nacht im Fenster des Schlosses des Sultans leuchtet. Als sie bemerkten, dass das Fenster offen war, sprach der Älteste von ihnen: „Wer von euch ist in der Lage, das Geheimnis des Lichtes herauszufinden?" Einer der Falter sprach: „Ich werde losfliegen, um herauszufinden, was das Geheimnis ist!" So flog er um die Lampe, die am offenen Fenster stand, herum. Als er wiederkam sagte er: „Ich bin ganz dicht herumgeflogen und kann nur so viel sagen, dass dieses Licht ganz hell und heiß ist." Der weise Falter sagte: „Du hast das Geheimnis des Lichtes nicht herausgefunden." Ein zweiter Falter flog, und als er wiederkam, sagte er: „Die Flamme des Lichtes drohte mich ganz zu verbrennen. Meine Flügel sind angebrannt." Jedoch sagte der weise Falter wieder: „Auch du hast das Geheimnis des Lichtes nicht erfahren." Da machte sich der jüngste der Falter auf und stürzte sich ganz in die Flamme und verbrannte darin. Da sagte der weise Falter: „Nur er kennt das Geheimnis der Flamme und des Lichtes. Es gibt kein Licht ohne Feuer."2 Uns ist Erkenntnis möglich, weil wir die Gegensätze Licht und Dunkelheit in uns tragen. Indem wir durch das Empfangen des Himmelslichtes der höheren Vernunft sterblich-unsterblich werden, können wir uns ganz für das Himmelreich Gottes in uns öffnen und die ganze Wahrheit sehen. Diese setzt sich aus den bewussten Licht- und den unbewussten Dunkelheit-Anteilen unseres Bewusstseins zusammen. Das Licht braucht die Dunkelheit, um sich in ihr zu offenbaren, so wie das Eisen die Farbe des Feuers annimmt, wenn es in ihm geschmiedet wird. Der innere Weg ist ein Weg voller Leidenschaften. Ohne Leidenschaft wird nichts vollbracht. Das harte rohe Eisen wird im Feuer der Leidenschaft geschmiedet und erhält dadurch den Glanz des Lichtes der Ewigkeit. Wer nur darüber redet, kennt das Geheimnis nicht, und wer es kennt, wird nicht darüber sprechen. Er ist im Feuer der Liebe verwandelt, veredelt worden. Als Gott Adam erschuf, machte er einen Körper aus Ton. Als dieser vollendet war, blies er ihm seinen göttlichen Odem in die Nase. Das heißt: Zuerst entstand das Körpergefühl, danach kamen der Verstand und der Geist in den Menschen. Der innere Mensch gleicht dem Schmied, der durch das Pochen und Schlagen des Herzens den äußeren Taten Ewigkeit und ewigen Ruhm verleiht. Eine Arbeit ohne Liebe ist keine wohlgeleistete Arbeit. Durch die Liebe und das Schlagen unseres Herzens wird die Arbeit veredelt und bekommt ewigen Ruhm und Glanz. Die Liebe macht die Dinge schön, sie kann Sterbliches in Unsterbliches verwandeln. Nur durch sie wird das „große Werk“ vollbracht. Die Liebe wohnt im Herzen und regiert wie ein König über alle anderen Organe. Alle Geheimnisse sind im Herzen und im Atem, der durch den Impuls des Herzschlags hervorgebracht wird, verborgen. Ibn’Arabi sagt: „Mein Herz umfasst alle Formen, es ist ein Kloster für Mönche, eine Form für alle Götter, eine Weide für Gazellen, die Kaaba für alle Pilgerreisen, die Tafel der zehn Gebote, das Buch der Bibel und des Korans. Liebe ist der Zügel, den ich halte, wohin sich das Kamel auch wendet, Liebe ist immer die Richtung meines Glaubens." Hierzu eine freie Nacherzählung aus dem Buch Vogelgespräche von Attar: Du musst dich jahrelang in Eifer und Fleiß üben und wie ein Schmied das Eisen deiner rohen Taten mit der Flamme des Herzens vereinen, bis du selber Unsterblichkeit erlangst. Du musst ganz leidenschaftlich und aufrichtig sein. Und wenn dir nichts mehr bleibt, musst du dein Herz von allem, was es gibt, durch das Feuer der Liebe reinigen. Wenn dein Herz von allem rein ist, beginnt das Licht deines eigenen Wesens zu leuchten. Erscheint es über dem Herzen, dann wird ein Wunsch zu einem tausendfachen Herzenswunsch. Das Feuer leidenschaftlicher Liebe wird hunderte von Schwierigkeiten überwinden. Aus Liebe zum göttlichen Geliebten, deinem höheren Selbst, wirst du wie wahnsinnig und fliegst schmetterlingsgleich zum Feuer. Das Geheimnis der Liebe wirst du nur verstehen, wenn du von Sehnsucht nach deinem Geliebten ganz ausgelöscht sein wirst.  Schmetterlingsgleich fliegst du zum Feuer deines eigenen Selbst. Durch das völlige Ausgelöscht-Sein im Herzenswunsch nach dem göttlichen Geliebten, deinem eigenen Selbst, wird dir das Geheimnis der Liebe offenbart und alle Angst vor dem ungeheuerlichen Drachen (der Eitelkeit, Selbstliebe, dem falschen Ich, deinem Ego, deiner Persönlichkeit) wird dann ganz verschwinden. Wenn du vor lauter leidenschaftlicher Liebe zum verfluchten, ungläubigen Satan selbst geworden bist und diesen in dir akzeptiert hast, öffnet sich die Tür zum göttlichen Geliebten, deinem wahren Selbst. Wenn sie offen ist, gibt es weder Glauben noch Unglauben. Wahre Liebe kennt keine Hintergedanken. Mit der Liebe hören Gut und Böse auf zu existieren.  Wenn ihr nicht euer Geld, den guten Ruf und sogar euer Leben aufs Spiel setzt, werdet ihr niemals ganz verstehen, was es heißt, mit dem inneren Menschen, dem himmlischen Geliebten, der euer wahrer Freund ist und euer höheres Selbst, vereint zu sein. Wenn die Liebe kommt, verschwindet die äußere Vernunft. Liebe hat nichts mit dem äußeren menschlichen Verstand zu tun. Wenn ihr wirklich schauen könntet, würdet ihr die Mandel in der Schale sehen. Das Innerste würde sich für euch offenbaren. Doch wenn ihr die Dinge nur mit den Augen des gewöhnlichen äußeren Verstandes betrachtet, werdet ihr nie begreifen, wie notwendig es ist zu lieben.  Die Geheimnisse offenbaren sich Diese Gedanken Attars kann nur ein Mensch nachempfinden, der geprüft worden ist und von sich selbst, vom Ego, befreit ist. Wer sich auf diese Reise begibt, sollte tausend Herzen haben, damit er in jedem Augenblick eines von ihnen opfern kann. Kein Weg gleicht diesem. Die Entfernung, die man zurücklegt, um Erkenntnis zu erlangen, sind Ewigkeiten. Erkenntnis ist für einen solchen Reisenden etwas Bleibendes, während äußeres Wissen vergänglich ist. Göttliche Erkenntnis, Gnosis, entsteht durch den Sinn für die Ewigkeit. Der spirituelle Weg offenbart sich in dem Maße, in dem der Reisende seine Fehler, Schwächen, seinen Schlaf und seine Trägheit überwindet. Jeder wird, je nach seinen Bemühungen, dem Ziel näher kommen. Man kann auf unterschiedliche Art und Weise zur Erkenntnis erlangen. Einige haben die Gebetsnische der Muslime gefunden. Wenn die Sonne der Erkenntnis diese Straßen erleuchtet, empfängt jeder Reisende die Erkenntnis der Wahrheit, die für ihn bestimmt ist. Das Geheimnis unseres Wesens und das aller Geschöpfe offenbart sich im Herzen. Die Geheimnisse aller Atome zeigen sich hier und aus dem Aschehaus der Welt entsteht ein Rosengarten. Der Pilger sieht den Kern im Inneren und nicht seine Hülle; er sieht sogar im Atomkern das Angesicht seines göttlichen Geliebten, seines göttlichen Selbst. Alles, was er im Inneren sieht, ist ewig. Jedes einzelne Atom erhellt sich durch das Angesicht des eigenen göttlichen Selbst. Hunderttausend Geheimnisse zeigen sich, wenn sich der Erkennende im Erkannten erkennt. In jedem Atom wirst du das Ganze sehen. Über hundertausend Geheimnisse werden sich dir offenbaren. Es ist nicht möglich, darüber nachzudenken. Wie viele haben sich schon auf der Suche nach sich selbst verirrt! Wir müssen von dem tiefen beständigen Wunsch erfüllt sein, in den Zustand zu gelangen, in dem wir waren, bevor wir waren. Aus diesem Nichts versuche ich, mein All zu erschaffen. Doch was auch immer wir erreichen mögen – wir sollten nicht die weisen Worte vergessen: „Es gibt noch viel mehr.“  Ihr, die ihr schlaft, ich kann euch dafür nicht loben. Warum legt ihr nicht Trauerkleidung an? Ihr, die ihr die Schönheit eures Freundes, eures wahren Selbst, gesehen habt, steht auf und sucht! Wie lange werdet ihr so bleiben, wie ihr seid – ein Esel ohne Halfter und Zügel? Erst wenn in euch das Verlangen lebt, weder etwas zu besitzen, noch etwas zu entdecken, erst dann wird sich ein kalter Wind erheben, der die Welt zu Eis werden lässt, die sieben Ozeane zu einem Wasserbecken, die sieben Planeten zu einem kleinen Gefunkel, die sieben Himmel zu einem Totentuch, die sieben Höllen zu zerbrochenem Eis. Dann wird das Wunderbare geschehen, das unseren Verstand übersteigt: Jede Ameise empfängt die Kraft von hundert Elefanten. Es gibt nichts Altes und nichts Neues, was irgendeinen Wert hat. Wir können handeln oder nicht handeln, es ist einerlei. Der Kreis schließt sich.  Vom Sinn des Lebens Eine Sufi Geschichte über den Sinn des Lebens 3: Es gibt viele Menschen, die mit sich und der Welt ganz unzufrieden sind. Sie glauben, dass es ihnen nicht sehr viel besser gehe als einem Hund. Sie empfinden keine richtige Freude und keinen richtigen Schmerz. Andere Menschen sind ihnen zuwider, weil sie meinen, dass diese nur mit Dumm- und Halbheiten beschäftigt seien. Sie bemerken nicht, wie stolz und überheblich sie sind. Ein solcher Mensch sprach eines Tages zu sich: „Was soll das alles? Wer ist schuld an all dem Elend, das es auf der Welt gibt? Nichts hat einen Sinn. Ich werde hinausziehen, um die Welt zu verändern und herauszufinden, was es mit dem sinnlosen Leben auf sich hat." Er ging los und war erstaunt, dass es so viele unterschiedliche Wege gibt, den Sinn des Lebens zu suchen. Wohin sollte er gehen? So blieb er also stehen und sagte: „Ich werde die Erde nach dem Sinn des Lebens fragen, sie hat so viele Geheimnisse und Schätze in ihrem Bauch. Sie muss das Geheimnis des Lebens kennen." Aber die Erde sagte: „Ich bin ebenso traurig wie du. Ich bin auf die Menschen angewiesen. Was tun sie nicht alles mit mir? Wie soll ich etwas vom Leben wissen, da ich doch all die Toten in mir trage?“  Der Mensch sagte sich: „Ich werde das weite Meer fragen.“ „Ich kann deinen Wissensdurst nicht stillen", antwortete ihm das Meer auf seine Worte. „Ich bin selbst durstig und sehne mich nach dem reinen Wasser der Flüsse." So dachte der Sucher: „Der Wind muss es wissen." Doch der Wind sagte ihm: „Ich habe keine Macht, noch kenne ich mein Ziel. Ich wehe mal hier und mal dort und darf nirgendwo lange verweilen."  „Dann weiß vielleicht das gefährliche Feuer, was es mit dem Sinn des Lebens auf sich hat", sagte sich der Mann. Das Feuer jedoch streute sich Asche aufs Haupt, so wie es bei unglücklichen Menschen der Brauch ist, und erklärte ihm: „Wie soll ich dir antworten? Ich bin ebenso traurig wie du. Ich muss alles sinnlos verwüsten und sterbe, wenn ich nichts zu verbrennen habe." Nun fragte der Sucher die Sonne, den Mond und die Sterne. Die Sterne sagten ihm, sie seien ganz unwissend und auch der Mond konnte seine Frage nicht beantworten. Und die Sonne erklärte: „Ich trage nachts schwarze Trauerkleidung und werde am Morgen vor Scham rot über die Verbrechen, die auf der Erde geschehen. Die Sterne sind wie glühende Kohlen auf meinem Haupt und die Bläue des Himmels ist nur die Weite einer geöffneten Tür. Die Vorbestimmung fasst mich am Ohr und wirbelt mich durch den Tagesablauf ebenso wie dich." Daraufhin wandte sich der Sucher wieder der Erde zu und fragte die Pflanzen und die Tiere, ob sie ihm den Sinn und Zweck des Lebens nennen könnten. Aber er traf nur auf Erstaunen. „Bist du nicht der, der für uns verantwortlich ist, du, das einzige Lebewesen, das mit Verstand und Vernunft ausgestattet worden ist? So hat es Gott uns von dir gesagt." „Ah", dachte der Sucher, „so muss ich wohl den Verstand fragen.“ Aber wie erging es ihm dabei? „Du hast wohl keinen Verstand, dass du mich nach so etwas fragst", antwortete der Verstand. „Meine Antworten gelten nur den Ungläubigen etwas. Der Gläubige denkt mit dem Herzen."  So fragte der Sucher, der inzwischen müde geworden war von dem vielen Suchen und Fragen, schließlich sein eigenes Herz. Aber das Herz sagte ihm sanft und traurig, dass es nur ein Diener und Abglanz der Sonne der Seele sei.  Völlig gebrochen kehrte der Mensch von seiner langen Suche nach Hause zurück, setzte sich vor sein Haus und kratzte sich verwundert am Kopf. Und da hörte er ganz plötzlich das Meer seiner eigenen Seele rauschen. Ungefragt sagte es: „Du hast vergeblich die ganze Welt durchforscht, bis du an mein Ufer gelangt bist. Du bist ein Teil von mir. Tauche in dir selbst unter und du findest, was du suchst." So warf sich der Mensch in das Meer seiner Seele, und als der Muezzin den Gebetsruf am frühen Morgen erschallen ließ, da konnte der Sucher auf einmal den Wert und die Schönheit aller Dinge erkennen, denn er stand sich selbst nicht mehr im Wege. Der Himmel seines Lebens begann wie eine Morgenröte zu leuchten. Wer es verstehen kann, der versteht es. Selam Aleykum.  Quellen: 1 Idries Shah, Die drei Wahrheiten. Weisheitsgeschichten der Sufis, 2007  2 Idries Shah, Der glücklichste Mensch. Das große Buch der Sufi-Weisheit, 1986 3 Fariduddin Attar, Das Meer der Seele, 1997

 
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