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  Eine Weihnachtsgeschichte
 

 



Bei uns normal

 

Eine islamische Weihnachtsgeschichte

 

von Sheikh Ahmad Kreusch

                                                                                                                          

Der 23. Dezember 1982 in Berlin, ein Donnerstag, war einer jener Tage, an denen man morgens beim Aufwachen überlegt, ob man überhaupt aufstehen soll. In meiner Kreuzberger Altbauwohnung war es gemütlich warm, dafür sorgte der Kachelofen. Aber die Fenster waren mit Eisblumen überzogen, eine deutliche Warnung vor der gnadenlosen Kälte draußen. Man verließ die Wohnung nur, wenn es unbedingt nötig war. An diesem Donnerstag war es nötig. Ich hatte mich nach dem Morgengebet gleich warm angezogen, den Ofen noch einmal versorgt und ging das leere Treppenhaus hinunter auf die Straße zur U-Bahn, denn ich war um 9 Uhr bei Freunden zum Frühstück eingeladen.

Es war gegen halb neun, als ich nach ein paar Stationen ausstieg und die Stufen zur Außenwelt hinauflief, vorbei an ein paar Obdachlosen in Schlafsäcken, die in der Wärme des U-Bahnhofes die Nacht verbracht hatten. Oben an der Straße spürte ich die schneidende Kälte schmerzhaft auf meinem Gesicht. Die Temperatur musste weit unter Null sein. Jetzt waren es noch etwa 10 Minuten zu Fuß, vorbei an erleuchteten Schaufenstern. Die Geschäfte hatten noch nicht geöffnet. Später würde auch hier der Endspurt des Weihnachtsgeschäftes zu spüren sein und viele Leute die Straße bevölkern.                                                                              (1.)

Ich bog in eine Seitenstraße ein, in der es nur noch die großen alten Mietshäuser mit den Hinterhöfen und Toreinfahrten gab, hier und da erleuchtete, zugezogene hohe Fenster, aber keine Menschen auf der Straße. In den wärmeren Jahreszeiten war das hier anders: Frauen in bunten weiten Kleidern mit weißen Kopftüchern, der Lärm spielender Kinder, die offenen Auslagen türkischer Gemüsegeschäfte, Teestuben mit Tischchen draußen davor und Männern, die in Brettspiele vertieft waren. Kein Wunder, dass dieses Viertel „Klein-Istanbul“ genannt wurde.

Ich hatte mich warm eingepackt mit einem langen, breiten Wollschal um den Hals. Die Hände steckten mit den Handschuhen tief in den Taschen einer Winterjacke der schwedischen Armee mit Futter aus echtem Schaffell. Eine Paschtunenmütze aus Afghanistan hatte ich mir bis über die Ohren gezogen. Mein Atem dampfte und ich spürte, wie sich am Rande der Nasenlöcher Eiskristalle bildeten.

Noch einmal musste ich abbiegen und lief gleich hinter dem Eckhaus fast in eine junge Frau hinein. Sie hockte auf dem Bürgersteig bei einer alten Frau im Lodenmantel, die rücklings auf der Erde lag, die Augen geschlossen. Die junge hatte eine Tasche zusammen mit einer Pelzmütze unter deren Kopf gelegt und rieb die blaugefrorenen Hände der alten.

„Was ist los?“ sagte ich, obwohl die Situation keiner Frage bedurfte.

„Sie lag hier schon, als ich gerade um die Ecke kam,“ sagte die junge Frau, „offenbar ohnmächtig geworden. Aber sie lebt noch!“ Man konnte die kleine Atemwolke sehen, die von der Nase hochstieg.

Jetzt kam ein Mann aus der Gegenrichtung eilig auf uns zu und sagte schon von Weitem mit unverkennbar türkischem Akzent: „Wir können sie in meine Wohnung bringen gleich hinten, erster Stock Hinterhaus. Meine Frau kann Kaffee machen und warm machen.“

Der Türke hatte sich auf das Pflaster gekniet und befühlte kurz das Gesicht der Frau. „Schnell machen, sonst zu kalt,“ sagte er und schaute mich an, als ob ich ihm helfen sollte.

„Ich habe schon den Notdienst angerufen,“ sagte die junge Frau und deutete auf eine Telefonzelle in der Nähe, „die müssen gleich hier sein.“

Der Türke stand wieder auf und sagte: „Aber wenn die nicht sofort kommen?“ Er wollte seine Jacke ausziehen, wahrscheinlich, um sie unter oder über die alte Frau zu legen, da hörten wir tatsächlich das Lalü-lalü, und mit Blaulicht brauste ein weißroter Notarzt-Wagen heran.

Jetzt ging alles sehr schnell. Die Sanitäter hoben die Frau auf die Tragbahre und schoben sie durch die Hecktüren in den VW-Bully, ein Notarzt legte ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Ein paar Fragen, die von der jungen Frau beantwortet wurden, aber nicht viel ergaben. Der Arzt nahm die Tasche und das Pelzhütchen an sich. Dann noch „Kennen Sie die Frau?“ an uns alle. Wir schüttelten nur den Kopf. Die Hintertüren des Wagens wurden geschlossen, man konnte unter der großen roten Schrift „Notarzt“ das kleiner geschriebene „Notfallstation Urban-Krankenhaus“ lesen. Und schon waren sie mit Blaulicht und Lalü wieder weg. Das Ganze hatte keine 5 Minuten gedauert.

Die Frau verabschiedete sich und verschwand um die Ecke. Ich blieb mit dem Türken allein und fand jetzt Zeit, ihn mit „Salam aleikum“ zu begrüßen. Erstaunt antwortete er „aleikum Salam“ und schaute mich interessiert an, wohl um heraus zu kriegen, was für ein Landsmann ich sei. Dann kam etwas zögernd die Frage „türkisch?“. Ich antwortete: „Nein, deutsch.“ Immer noch war sein Gesicht eine einzige Frage, und dann kam, was ich damals oft gefragt wurde: „Sind Sie Muslim?“

„Ja, al Hamdulillah (Gott sei gepriesen)!“ sagte ich. Jetzt strahlte sein Gesicht. Er kam näher, schaute mich ohne Hemmungen genau an und sagte: „Ich glaube, ich habe Sie schon mal gesehen, in Mosche,“ er betonte das Wort Moschee auf der ersten Silbe, „Mevlana-Mosche am Kottbusser Tor.“

Ich sagte, dass ich dort manchmal beim Freitags-Gebet gewesen sei, dass ich mich an ihn aber nicht erinnern würde. Er wollte mich jetzt unbedingt in seine Wohnung zum Kaffee einladen „gleich hinten Toreinfahrt, 2. Hinterhof rechts“.

Ich bedankte mich und sagte, ich müsse zu einem Termin um 9 Uhr.

Das Wort Termin überzeugte ihn sofort. „Alles klar!“, sagte er und dann: „Morgen zum Dschuma-Namaz (Freitagsgebet) in Mevlana-Mosche?“ „Insha’allah (wie Gott es will)“, sagte ich. So gingen wir eine kurze Strecke gemeinsam, bis die Toreinfahrt zu seiner Wohnung kam. Er blieb stehen und fragte: „Wie heißt du, Bruder?“ „Ahmed,“ antwortete ich, „und wie ist dein Name?“ „Mustafa,“ sagte er. Wir gaben uns die Hände, verabschiedeten uns mit „Salam aleikum- aleikum Salam“, und ich ging weiter.

Wir hatten kein weiteres Wort über die alte Frau gesprochen, die auf dem kalten Pflaster des Bürgersteigs gelegen hatte. Um so mehr kamen mir jetzt allerlei Gedanken. Wie würde es wohl mit ihr weitergehen im Krankenhaus? Ob sie so in der Türkei längere Zeit in der Kälte allein auf der Straße gelegen hätte? Wahrscheinlich nicht, glaubte ich, denn ich kannte die Hilfsbereitschaft der Türken aus vielen Erzählungen von Freunden. Ich selber war noch nicht in der Türkei gewesen.                                                                                                            (2.)

Die alte Frau war sicher jetzt gut versorgt. Schnelle Hilfe, professionelle Sozial- und Krankenbetreuung hier bei uns. Und doch hatte ich ein Gefühl der Hilflosigkeit. Was würde weiter mit ihr geschehen? Ich kam zu dem Haus, in dem meine Freunde wohnten.  

 

Am nächste Tag ging ich zum Freitagsgebet in die Mevlana-Moschee und war neugierig, ob Mustafa auch dort sein würde. Tatsächlich kam er nach dem Gebet auf mich zu. Er war sehr aufgeregt und überfiel mich gleich nach der Begrüßung mit einer Bitte: „Kannst du mir helfen? Ich war gestern Nachmittag mit meiner Frau im Urban-Krankenhaus. Wir wollten die Oma von gestern besuchen. Aber die Schwester am Eingang sagte, nur Angehörige dürfen kommen. Sagt, sie darf keine Auskunft an fremde Leute geben. Kannst du noch mal zusammen mit mir zum „Urban“ gehen und versuchen?“

Ich fragte: „Jetzt gleich?“.  „Ja, am besten,“ meinte er, „wir können mit meinem Auto fahren.“ Ich hatte nichts anderes zu tun und ging mit ihm hinunter auf die Straße zu seinem Auto, einem alten Ford. Während der Fahrt erzählte Mustafa, was er gestern erlebt hatte. Er war „nach Feierabend“ mit seiner Frau zum Krankenhaus gefahren um „Oma zu besuchen“, hatte am Empfang nach der alten Frau gefragt, die gestern hier eingeliefert worden war, aber konnte natürlich keinen Namen nennen. Zwar hatte er die ungefähre Uhrzeit ihrer Einlieferung angegeben, aber der Empfangsdrachen hatte ihn abgewimmelt. Auf die Frage „Sind Sie Verwandte?“ musste Mustafa mit Nein antworten. Prompt kam dann die Bemerkung, nur Angehörigen könne „Auskunft erteilt werden.“ 

Nach ein paar Straßenzügen sahen wir schon den turmartigen Bettentrakt des Urban-Krankenhauses. Mustafa fuhr auf den Besucherparkplatz, wir stiegen aus und steuerten auf die Empfangshalle zu.

In der Mitte der kreisförmigen Vorfahrt stand ein großer Tannenbaum, behängt mit erleuchteten Glühbirnen. In der Eingangshalle dann noch ein kleinerer, voll mit Lametta und elektrischen Kerzen. Dazu weihnachtliche Musik aus den Lautsprechern. Trotzdem war die Atmosphäre nicht sehr weihnachtlich, sondern es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung. Personal und Patienten zog es nach Hause zum eigenen Weihnachtsbaum.

„Andere Schwester als gestern!“, raunte mir Mustafa sichtlich erleichtert zu, als wir zum Empfangsschalter gingen. Ich übernahm das Gespräch: „Gestern morgen kurz vor Neun ist hier mit dem Notfallwagen eine alte Frau eingeliefert worden. Wir wollten gerne wissen, wie es ihr geht.“

„Wie war der Name?“, fragte die Schwester. „Wissen wir nicht. Wir haben sie auf der Straße ohnmächtig gefunden und den Notdienst gerufen.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich machte jetzt aus der jungen Frau von gestern, Mustafa und mir einfach ein Team. „Sind Sie Angehörige?“, kam jetzt die entscheidende Frage. „Nein. Wir sind Nachbarn.“, sagte ich. „Aber den Namen kennen Sie nicht?“ „Kennen Sie die Namen von all Ihren Nachbarn?“, fragte ich freundlich zurück. „Gehen Sie zur Notaufnahme, hinten durch, eine Treppe tiefer. Dort kann man Ihnen sicher weiter helfen.“, sagte die Frau.

Wir fanden die Notaufnahme-Station und ich wiederholte meine Fragen, diesmal bei einem Sanitäter. „Ich werde am besten den diensttuenden Arzt rufen“, sagte der und sprach in ein Mikrofon hinein „Doktor Askari, bitte zur Notaufnahme!“

Mustafa und ich schauten uns an, als wir den arabischen Name des Arztes hörten. Der Arzt kam auch gleich aus einem Nebenraum und wandte sich zu uns. „Salam aleikum,“ begrüßte ich ihn und freute mich, als ich seine Antwort „aleikum salam“ hörte. Ein gutes Zeichen. Manchmal  antworten Leute, die offenkundig aus orientalischen Ländern kommen und islamische Namen haben, auf diesen Gruß bewusst mit „Hallo“ oder anderen „modernen, westlichen“ Begrüßungsformeln und geben damit zu verstehen, dass sie mit Islam wenig zu tun haben wollen. Meistens aber öffnet der Friedensgruß sofort die Herzen und bringt für einen Moment ein freundliches Licht in die Gesichter der Angesprochenen.

Der junge Arzt hatte ein schmales, glattes Gesicht mit dunkler Hautfarbe. Wie wir später von ihm erfuhren, war er Ägypter und hatte in Deutschland studiert. Der islamische Friedensgruß hatte schlagartig alle Probleme beseitigt. Dr. Askari war sofort bereit, die Patientin von gestern in der Aufnahmeliste zu suchen, als ich jetzt zum dritten Mal meinen Spruch aufsagte. „Ich war gestern nicht hier“, sagte er, „ich habe erst seit heute Mittag Notdienst über Weihnachten. Die meisten vom Personal wollen nach Hause. Für uns ist Weihnachten ja nicht so wichtig,“ erklärte er lächelnd. „Aha, Frau Lehmann. Gestern um 8Uhr50. Liegt auf Frauen-Station II. Wollt ihr sie besuchen?“ In Berlin unter Muslimen war man sofort „unter Brüdern“, das hatte ich schon mehrfach erlebt. Mustafa und ich nickten. „Ich komme mit und stelle euch vor,“ sagte Dr. Askari. „Wie geht es der Frau Lehmann?“ fragte ich. „Kreislaufprobleme, starke Unterkühlung und Unterernährung, aber sonst ganz gut“, meinte der Arzt.

Im Aufzug, mit dem wir  ein paar Stockwerke hoch fahren mussten, fragte der Arzt nach unseren Namen, tippte richtig bei Mustafa auf „türkisch“ und bei mir auf „deutsch“ und erklärte, er kenne ein paar deutsche Muslime in Berlin, ob ich die auch kennen würde, typische, freundliche, belanglose Gespräche, aber keineswegs ohne Herz. Wir gelangten auf den Flur der Frauenstation und gingen zum Krankenzimmer von Frau Lehmann. „Es sind kaum noch Leute hier. Die meisten Patienten werden von ihren Verwandten über Weihnachten nach Hause geholt. Frau Lehmann hat niemanden in Berlin und muss hier bleiben über die Feiertage.“, erklärte der Arzt.

Wir betraten ein Zimmer mit 3 Betten. 2 waren leer. Am Fensterbett lag als einzige Patientin die alte Frau bis zum Hals zugedeckt, nur das spitze Gesicht war zu sehen. „Frau Lehmann, diese Herren haben Sie gestern gefunden und wollten Sie jetzt mal besuchen.“, sprach der Arzt die Patientin freundlich an.

Frau Lehmann wandte ein wenig den Kopf zu uns und hob uns ihre schmale Hand entgegen, als wir sie begrüßten. Ihre Augen blickten ängstlich auf die zwei fremden Männer mit schwarzen Vollbärten und dicken Winterjacken, die wir jetzt allerdings aufgeknöpft hatten. Unsere Mützen, meine afghanische und Mustafas türkische, machten das orientalische Aussehen komplett. Mit dem dunkelhäutigen Arzt im weißen Kittel als dritten im Bunde standen wir wie seltsame „drei Weisen aus dem Morgenlande“ am Krankenbett der fremden Frau, die sicherlich in diesem Moment überhaupt nicht an so etwas dachte. Sie antwortete mit leiser Stimme auf unsere Fragen nach ihrem Befinden. Wir erfuhren, dass es  in der „DDR“ Verwandte gab, einen Sohn und eine Tochter, die sich aber schon lange nicht mehr gemeldet hatten. Mustafa fragte, ob er später noch einmal „mit Frau“ vorbeikommen könnte. „Bei uns in der Türkei ist eine Oma nie alleine,“ sagte er freundlich ohne Hintergedanken.

Ob Frau Lehmann alles richtig verstanden hatte? Sie nickte nur. Dann bat uns der Arzt, den Besuch für diesmal zu beenden. Auf dem Flur sagte er, dass die Patientin den unverhofften fremden Besuch erst mal verdauen müsse. „Sie ist noch nicht wieder ganz fit und schläft viel“, meinte er entschuldigend. Mustafa fragte wieder, ob er später noch einmal mit seiner Frau vorbeischauen könne. „Kein Problem, aber nicht zu lange bleiben!“ erklärte der Arzt,

Wir verabschiedeten uns und Mustafa fuhr mich anschließend nach Hause. An der Straßenfront meines Wohnblocks befand sich im Souterrain ein Blumengeschäft, das schon geschlossen hatte. Vor dem Eingang lag auf dem Bürgersteig ein Stapel mit Tannenzweigen, offensichtlich zum Mitnehmen. Mustafa, der nur angehalten hatte, damit ich aussteigen konnte, drehte die Scheibe herunter und bat mich, ihm ein paar der Zweige ins Auto auf den Rücksitz zu legen. Dann fuhr er weiter. Die Menschen, die jetzt noch auf der Straße zu sehen waren, hatten es sichtlich eilig, nach Hause in die warme Stube zu kommen. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Es wurde langsam dunkel. Gleich war die Zeit der „Bescherung“.

 

Der nächste Tag war der 25. Dezember, ein Samstag, der 1. Weihnachtstag. Die Wolkendecke hatte sich aufgelöst, den ganzen Tag gab es Sonnenschein und blauen Himmel über strahlendweißem Neuschnee, Weihnachtswetter wie aus dem Bilderbuch. Ich hatte mich entschlossen, am Nachmittag noch einmal Frau Lehmann zu besuchen. Als ich dann in ihr Zimmer kam, bot sich mir ein völlig anderes Bild als gestern.

Mustafa war schon da und hatte die ganze Familie mitgebracht. Seine Frau saß dicht am Bett und schaute mir freundlich aus ihrem Kopftuch entgegen, drei Kinder unterschiedlichen Alters saßen brav in Sonntagskleidern auf der Bettkante des mittleren Bettes und blickten mit großen dunklen Augen auf die fremde „Oma“. Mustafa stand am Fußende von Frau Lehmanns Bett.

Frau Lehmann war nicht wieder zuerkennen. Zwar immer noch ein wenig blass, saß sie aufrecht im Bett, zurückgelehnt an das hochgeklappte Kopfende. Sie trug einen buntgeblümten, kunstseidenen Morgenrock, ein Geschenk von Mustafas Frau, und begrüßte mich strahlend. Auf der Fensterbank und auf dem Tischchen am Fenster lagen einige der Tannenzweige, die Mustafa gestern vom Blumengeschäft mitgenommen hatte, dazwischen weiße Untertassen mit roten, brennenden Kerzen, und auf dem herausgezogenen Frühstücksbrett des Nachtkommödchens stand eine Schale mit Süßigkeiten. Mustafa hatte mit seiner Frau und den Kindern das Krankenzimmer weihnachtlich ausstaffiert. „Schon gestern Abend“, wie er sagte. Die Unterhaltung verlief noch etwas schleppend, weil Mustafas Frau nicht so gut Deutsch konnte wie er. „Aber die Kinder sprechen gut deutsch“, entschuldigte sich Mustafa. Frau Lehmann versuchte, sich die Namen der Kinder zu merken. Auch während des Gesprächs machte sie manchmal eine Pause, zeigte  jeweils auf ein Kind und sagte dessen Namen. „Erkan, Aysun, Mehmet. Mein Gedächtnis ist schlimm“, seufzte sie. Später erzählte sie mir sehr bewegt, wie die Kinder, die Frau und sogar der Mann ihr die Hand geküsst und dabei den Handrücken an die Stirn geführt hatten, so wie es türkische Sitte ist. So etwas hatte sie noch nie erlebt. „Bei uns normal!“, lachte Mustafa. Ich bekam gleich einen Tee mit Zucker aus der Thermoskanne. Die Türken hatten an alles gedacht.

Ich war froh, dass ich bei der Unterhaltung jetzt mithelfen durfte. So konnte ich wenigstens auch etwas zur Situation beitragen, denn ich war ehrlich gesagt überrascht und auch ein wenig beschämt, dass  Mustafa sich für diese unbekannte Frau so viel Mühe gemacht hatte. Frau Lehmann gestand, sie habe Verständigungsprobleme befürchtet. Nun wurde sie richtig gesprächig und wollte ihrerseits viel über uns wissen. Natürlich auch „ob wir Weihnachten feiern.“ „Nicht so wie die Christen“, sagte Mustafa, „aber wir glauben auch an Jesus und Maria!“ Doch wichtiger als der „interreligiöse Dialog“ waren die persönlichen Fragen. Wir erfuhren einiges über das frühere und jetzige Leben der alten Dame, über ihre Kinder „in Stralsund“,  über ihren Mann, der schon vor 10 Jahren gestorben war und vieles mehr.

Der Nachmittag ging schnell vorüber. Als es dunkel wurde, fragte mich Mustafa, ob wir das Abendgebet irgendwo auf dem Flur gemeinsam verrichten könnten, „sind kaum Leute da“ meinte er. Keck fragte ich Frau Lehmann, ob sie uns erlauben würde, unser Gebet hier im Zimmer zu machen. Natürlich hatte sie nichts dagegen. Mustafa kramte aus der großen Tasche, in der er alles für diesen Nachmittag mitgebracht hatte, ein paar große, bestickte Tücher heraus, schob Sessel und Tischchen beiseite, breitete die „Gebetsteppiche“ auf dem PVC-Boden aus und verwandelte den breiten Durchgang vor den Betten in eine kleine Moschee. Sein Ältester rief mit heller Jungenstimme den Gebetsruf, und dann beteten wir alle das Abendgebet hinter Mustafa als Vorbeter. Auch das hatte Frau Lehmann sicher noch nie erlebt.

Als es draußen ganz dunkel war, verabschiedeten wir uns alle sehr herzlich, die Kinder wieder mit Handkuss. Mustafas Frau umarmte die „Oma“ zum Abschied und sagte dabei: „Morgen wiederkommen!“, und gemeinsam  verließen wir das Krankenhaus. 

 

Ich war kurz danach für längere Zeit weg von Berlin. Als ich nach 3 Monaten zurück kam und Freitags die Mevlana-Moschee aufsuchte, war kein Mustafa mehr da. Vom Hodscha der Moschee erfuhr ich, dass er  mit seiner Familie zurück in die Türkei gegangen sei.

Von Frau Lehmann habe ich auch nichts mehr gehört. Sicher hätte ich beim Krankenhaus etwas über sie erfahren können. Aber dazu kam es nicht, denn Ende April war ich schon wieder unterwegs.

Die Erinnerung an dieses schöne, unverhoffte „islamische Weihnachtsfest“, das ich meinem türkischen Glaubensbruder Mustafa verdanke, ist allerdings ein bleibendes Geschenk.  Durch seine Initiative haben die fremden Menschen, die hier „zufällig“ zusammen trafen einen kurzen, lichtvollen Moment reiner Freude und echten Friedens erlebt. Er und seine Frau haben gezeigt, dass es dazu keiner großen Anstrengungen bedarf. Man muss sich nur auf die Situation des anderen 100prozentig einlassen und nicht an sich selber denken. Wie oft bieten sich solche Möglichkeiten an und wie oft lassen wir sie aus!

So wie ich Mustafa einschätze, würde er aber all dem nicht so viel Bedeutung beimessen. Er würde ohne jede Koketterie sagen: „Was soll man denn sonst machen? Bei uns normal!“

 

 

 

 

       

Ahmed al Mansouri Salahuddin,  Februar 2006

 

 

Zwei Passagen, die im Text auf Seite 1 und 2 weggelassen wurden:

 

(1.)

Schon von weitem kündigte sich der türkische Bäcker an der nächsten Straßenecke durch den Duft von frischem Weißbrot an. Hier hatte ich schon oft im Stehen einen Kaffee getrunken inmitten von typischen Kreuzberger Originalen, alten Omas, ruhelosen Nachtschwärmern, langhaarigen Hippies mit hochgezogenen Schultern, Arbeitern der Müllabfuhr, die Pause machten  und kein Blatt vor ihre Berliner Schnauze nahmen, und natürlich auch Türken, die beide Landessprachen Berlinerisch und Türkisch locker durcheinander benutzten. Man konnte in die offene Backstube sehen, in der die türkischen Bäcker lange Lattenroste mit frischgebackenen Fladenbroten balancierten. Ein echtes Zentrum gelungener Multi-Kultur, würde man heute sagen. Angefüllt mit erstaunlich vielen Menschen hinter riesigen, beschlagenen Scheiben, auf die mit großen Lettern „Kaffee und Schrippen frisch ab 5 Uhr“ gemalt war, sah der Verkaufsraum heute aus wie ein Dampfbad. Kundenfreundlich hatten die Türken sogar einen Weihnachtsbaum aufgestellt.

 

(2.)

Ein Jahr zuvor hatte ich in einem hochmodernen psychiatrischen Krankenhaus in der Schweiz gearbeitet und dort auch die geriatrische Abteilung kennen gelernt. Der Arzt führte mich damals durch die Aufenthaltsräume, voll mit alten Frauen, die meist reglos herum saßen und ins Leere starrten.

„Diese Patientinnen sind fast alle hierher gekommen, weil sie irgendwann mal zusammengeklappt sind,“ erklärte der Arzt damals. „Haben sie denn keine Familie?“, fragte ich. „Doch, natürlich. Aber zu Hause können sie nicht ihren Symptomen gemäß behandelt werden“, meinte der Arzt. „Natürlich kommen die Angehörigen sie regelmäßig besuchen. Aber Sie sehen ja selbst, die meisten sind ziemlich hilflos.“ „Gibt es auch eine Männerabteilung?“, fragte ich. „Es gibt ein paar ältere Männer mit ähnlichem Krankheitsbildern,“ sagte der Arzt, „aber zu wenige für eine eigene  Abteilung. Sie werden in normalen Krankenzimmern untergebracht. Es ist ja bekannt, dass Frauen statistisch gesehen älter werden als Männer, und wenn die Alten dann in erhöhtem Alter nicht mehr alleine zurecht kommen, dann landen sie hier.“ „Und bleiben hier bis zu ihrem Tode!“, setzte ich den Satz fort. „Ja,“ sagte der Arzt, „die Angehörigen können sie gar nicht so gut betreuen wie wir hier. Viele waren schon lange bei ihren Familien in Pflege bevor sie hierher kamen.“ Diese noch frischen Erinnerungen aus der Schweiz tauchten jetzt auf und beschäftigten mich im Weitergehen. 

 
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